Fernsehen / Infantilisierung / Regression


Ursula Woerner

Infantilisierung der Gesellschaft - ein mediales Konstrukt ?


Abstract: Kritik an der Infantilität unserer gegenwärtigen Gesellschaft prägt derzeit Teile der kulturbeflissenen Öffentlichkeit. Regressive Tendenzen seien auf dem Vormarsch. Entrüstung gegenüber den elektronischen Medien, allen voran dem Fernsehen ist dabei allerorts großgeschrieben: Das Fernsehen, ohnehin schuld an Analphabetismus und Gewalttätigkeit, raubt unseren Kindern die Kindheit und formt sie zu kleinen konsumbesessenen Erwachsenen. Nun macht es mittels Talk-, Game- und Blödel-shows auch noch die Erwachsenen zu Kindern. Ist die Gesellschaft auf dem Rückweg?



Die Feststellung: Unsere Gesellschaft verkindlicht

Ob Popmusik oder Design: Die Formensprache aktueller Kulturproduktionen spiegelt eine Affinität zum Kindlichen wider. Runde Formen, bunte Farben oder gar klassische Spielzeugelemente dominieren die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen - Sofas sehen aus wie überdimensionale Legosteine und riesige aufblasbare Sessel signalisieren: zurück zu den Schwimmflügeln. Musikgruppen bemühen schon mit Namen wie "Die Doofen" oder "Blümchen" das Kindchenschema, im Kino werden die prä-potenten Phantasien eines "kleinen Arschlochs" zum Kassenschlager.

Der SPIEGEL (9/1997) formuliert es deutlich: Er diagnostiziert für die gesamte bundesdeutsche Gesellschaft den "Morbus infantilitatis" und sieht in der "Tyrannei des Kindischen" das Ende der Politik und damit den Untergang des Abendlandes heraufziehen. Scharfe Kritik richtet sich dabei vor allem gegen das Massenmedium Fernsehen: es sei, so der SPIEGEL, "das größte virtuelle Kinderzimmer der Republik".

Ja, das Fernsehen - zum Beispiel "Bitte lächeln" - täglich auf RTL2: In einem Studio, dessen überdimensionale Einrichtungsgegenstände Moderatoren wie Gäste als Kleinkinder erscheinen lassen, werden mittels Vorführung privater Amateurvideos Alltagskalamitäten aller Art gezeigt: da haut eine Schwiegertochter ihrer Schwiegermutter den Kofferraumdeckel des Familienbusses auf den Kopf, ein Kleinkind gerät mit seinem Dreirad ins Schleudern und ein Turner stürzt böse vom Hochreck. Beim Saalpublikum herrscht Hochstimmung: So erfahren auch die Zuschauer zu Hause, daß Schadenfreude die schönste Freude ist und genießen ungestört, was ihnen selbst nicht passiert ist. Die Folgen der geschilderten Unfälle werden ohnehin verschwiegen.

Dies ist insofern symptomatisch, da zunehmend auch sogenannte "seriöse" Sendungen, bspw. Nachrichten, solchen Schemata unterliegen: Episodenhaftes Herausgreifen tritt an die Stelle der komplexen Schilderung eines Gesamtsachverhalts und vor allem seiner Auswirkungen.


Infantilisierung ist Regression

Wie der Literaturwissenschaftler Thomas Rothschild in seinem Essay "Relax and Enjoy - die totale Infantilisierung" (Wien, 1996) kritisiert, blieben auf diesem Wege selbstbestimmtes Denken und Konfliktfähigkeit, die Fähigkeit zur Begriffsbildung, zur Abstraktion auf der Strecke. Die Herstellung einer kritischen Distanz, sowie die Fähigkeit zu hierarchisieren, zwischen Mitteilenswertem und nicht Mitteilenswertem zu unterscheiden, gehe verloren - übrig bleibe kindliches Geplapper.

Solches Zurückfallen auf frühere, kindliche Stufen der Persönlichkeit, die "Reaktivierung entwicklungsgeschichtlich älterer Verhaltensweisen" beschreibt die Psychoanalyse mit dem Begriff der Regression, entstanden als Abwehrverhalten in Situationen der Überforderung. Zwei Pole der Regression unterscheidet Hartmut Heuermann in seinem Buch "Medienkultur und Mythen. Regressive Tendenzen im Fortschritt der Moderne" (Hamburg, 1994): Zum einen den gefährlich-destruktiven, der bis zur Psychose, Schizophrenie, Hysterie, bis zum Suizid führen kann - besonders problematisch in Form der regressiven Massenpsychose, wie die Auswüchse des Faschismus zeigen. Zum anderen den hier zur Diskussion stehenden, vergleichsweise harmloseren Pol, der lediglich eine Vermeidungshaltung ohne explizite destruktive Energien darstellt.

Eine solche Vermeidungshaltung hat auch der deutsche Trendforscher Matthias Horx im Blick, wenn er Infantilisierungstendenzen in der gegenwärtigen Gesellschaft konstatiert. Auch er sieht in der Welt der Regression eine Strategie, sich den Überforderungen der ernsten, von neuen und zurückgekehrten Härten geprägten Welt des Europas der Mittneunziger zu entziehen: Hätte noch vor zwanzig Jahren die Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens Kinder aus der Stickigkeit ihrer elterlichen Wohnung getrieben, so fänden sich in der gegenwärtigen Gesellschaft kaum Aspekte, die einen Wunsch, erwachsen zu werden, überhaupt konstituieren könnten: Elend, Rezession und soziale Desintegration unserer Zeit assoziierten Erwachsensein eher mit Sorgen und Not, als mit Freiheit und Selbstbestimmung. Wer bliebe da nicht lieber zu Hause vor dem Fernseher?


"Fernsehen entmündigt" - Medien und ihre Wirkung auf die Gesellschaft

Im Zusammenhang mit dieser Diskussion ist die gängige These, daß das Fernsehen unmittelbare Verantwortung für infantile Tendenzen innerhalb der Gesellschaft trägt, keineswegs neu. Eine frühe Bestätigung findet sich in Elfriede Jelineks 1972 erschienenem Roman "Michael. Ein Jugendbuch für die Infantilgesellschaft", dessen Titel auf Josef Goebbels faschistischen Bildungsroman "Michael. Ein deutsches Schicksal in Tagebuchblättern" (1929) Bezug nimmt. Darin entwirft Jelinek eine Freizeit- und Wochenendgesellschaft, die nicht mehr zwischen "echter" Realität und der in Werbung und Fernsehen gezeigten unterscheidet:

"mein Sohn hat das meer noch nie gesehen. Im fernsehen lernt er es kennen. flipper ist sein bester freund ..."

In direkter Anspielung auf den Fernsehalltag entworfene ProtagonistInnen des Romans - wie bspw. Inge Meise - werden bei Jelinek zwar in kommunikativen Zusammenhang mit den fiktiven "Normalbürgern" - wie bspw. Gerda - gestellt, eine tatsächliche Kommunikation findet mit den Fernsehvorbildern allerdings nicht statt: feinsäuberlich sind beide Gruppen durch parallel montierte Absätze voneinander getrennt.

Mittels verfremdender Zusammenstellung von TV-Szenen, Sprichwörtern und Werbeslogans karikiert Jelinek in brutaler Verzerrung und Übersteigerung die Vorstellungswelten ihrer erbärmlichen, fernsehenden "Normalos", deren einziges Bedürfnis ist, den Idolen aus der Flimmerkiste gerecht zu werden. Mit ihrem Scheitern führt sie die Pseudo-Intimität der Massenkultur vor und zeigt den Duktus des Fernsehens als Instrument von Hierarchisierung und sozialer Beschwichtigung:

"... ihr müßt schon besser schauen, wenn ihr die stiege herunterfallt oder überfahren werdet oder eure stellung verliert. Da stellt man eben die bildschärfe genauer ein ..."

Fernsehen, insbesondere Unterhaltungssendungen, reduziert bei Jelinek also prinzipiell politisch handlungsfähige Individuen auf Abziehbilder ihrer angebeteten Stereotypen, die - denkt man Jelineks Szenario zu Ende - auf Knopfdruck reagieren und durch solchermaßen autoritätsbezogen kindliches Verhalten faschistischen Machterhalt garantieren.

Jelineks drastische Darstellung massenmedialer Wirkmechanismen ist plausibel, nimmt man die Grundlagen solcher Anklage für bare Münze. Denn so sehr Jelinek das schablonenhafte Dasein ihrer Figuren schildert, sosehr unterstellt sie damit die Möglichkeit "authentischen" Erlebens jenseits medialer Vorbilder, wobei das sogenannte "authentische" zugleich als "besseres" Erleben bewertet wird, von dem das Fernsehen "entfremdet".

Der Entfremdungsvorwurf an die Medien hält sich bis heute: Zu Beginn der 80er Jahre hieß es bei Neil Postman ("Das Verschwinden der Kindheit"; Frankfurt, 1983) noch, der Einfluß des Fernsehens raube Kindern eine angemessene Kindheit und verwandele sie in kleine, frühreife und konsumbesessene Erwachsene. Heute gilt die umgekehrte Perspektive: Mittels Talk- Game- und Blödelshows mutierten Erwachsene im und - gemäß der Entfremdungslogik - damit auch außerhalb des Fernsehens zu narzißtischen Säuglingen, die jenseits rationaler Handlungsmaximen nur noch ihren unmittelbaren Impulsen folgten.

So äußert sich bspw. auch Thomas Rothschild zur Unterhaltungs- und Freizeitkultur vor allem aus ideologiekritischer Perspektive: Das frühkapitalistische Modell eines aktiven, entscheidungsfreudigen Menschen ist seiner Ansicht nach einer spätkapitalistischen Infantilität gewichen, die sich durch Passivität und Vertrauen auf eine selbsttätige Ökonomie auszeichnet. Dieser moderne Kapitalismus braucht Menschen, die stets erneut nach einer raschen Befriedigung von Bedürfnissen durch Konsum gieren. Daher müßten diese in den Zustand von Kindern zurückversetzt werden, die noch nicht gelernt haben, Frustration zu tolerieren.

Rothschild betrachtet die Medien dabei allerdings nicht als Verschwörungsinstrument des "Systems". Sie betätigten sich zwar als Ideologieproduzenten und -verstärker, jedoch nicht aus böser Absicht, sondern weil sie selbst infantil seien. Wie Jelinek stellt auch er Parallelen zur christlich-abendländischen Kulturtradition her, deren patriarchale Hierarchie seiner Meinung nach infantile Tendenzen begünstigt: Kinder Gottes sind wir hierzulande allemal.

Eine "kindliche Gesellschaft", in der Einzelne wie auch Staat oder Kirchen ihre Nachkommen dem ungefilterten Einfluß der (Unterhaltungs-)medien überlassen, anstatt ihre erzieherische Verantwortung wahrzunehmen, diagnostiziert auch der Amerikaner Robert Bly (München, 1997). Er beklagt dabei allerdings den Verlust der patriarchalen Ordnung und findet mit "Geschwistersozietät" einen Begriff für die gegenwärtige Gesellschaft, in der jede Generation in ihren altersspezifischen Konformismen verhaftet, die Kommunikation zwischen den Generationen allerdings gestört sei. Dies ziehe ewige Kindlichkeit und Unreife nach sich, da die westlichen Gesellschaften ihre paternistische Hierarchie durch freizügige Grenzenlosigkeit ersetzt hätten. Vertikale Orientierungen wie kulturelle Wurzeln, Traditionen, Glaube und Religion, Rituale, oder Geschichten, die über die eigene Generation und Lebenszeit hinausgreifen, würden durch horizontale Orientierungen wie Spaß, Erfolg, Geld und Unterhaltung innerhalb der Grenze der eigenen Altersgruppe ersetzt. Folge davon sei ein ewiger Zustand von Halb-Erwachsenheit, angefüllt mit den Nicht-Ereignissen der Medien.

Dies habe, so Bly, weitgreifende Folgen: Zum einen könnten Kinder, deren Gehirnentwicklung durch zu viel passives Konsumieren - also fernsehen - beeinträchtigt sei, jenseits der äußeren Bilderflut keine inneren Szenarien erschaffen, die jedoch notwendig seien, um bspw. in Krisensituationen Hoffnung zu entwickeln - für Bly der Grund für eine resignative Haltung Jugendlicher gegenüber Politik und Gesellschaft. Zum anderen schafften die Unterhaltungsmedien mit ihrem übersteigerten Star-Rummel und ihrer penetranten Launigkeit ein "terroristisches Über-Ich", das - nicht nur Jugendlichen - permanent suggeriere, daß der Mensch schön, gut gelaunt und erfolgreich zu sein habe. Wer den äußeren Anforderungen nicht genüge, sei durch die Unterhaltungsmedien einer permanenten Demütigung ausgesetzt. Emotionale und geistige Abflachung seien die Folge. Regression.


Die Gegenthese: Infantilisierung als mediales Phänomen

Schädliche Folgen zu hohen Fernsehkonsums, bspw. im Zusammenhang mit dem Thema "Gewalt", sind in der Vergangenheit immer wieder nachgewiesen worden. Sicher ist nicht von der Hand zu weisen, daß es Zusammenhänge gibt, bspw. zwischen Oliver Stones Film "Natural born killers" und einem real existierenden mordenden Pärchen, in dessen heimischem Videorecorder sich eben dieser Film fand. Auch die derzeitige Hochkonjunktur von Erpressungsversuchen mit Hilfe der Verteilung vergifteter Lebensmittelpackungen zeigt, daß Medienberichterstattung Vorbilder schafft. Dies ist allerdings zum einen ein Phänomen aller Zeiten (prominentes Beispiel: die durch Goethes "Werther" ausgelöste Selbstmordwelle), zum anderen läßt die Annahme so unmittelbarer Effekte wie sie bspw. John Grisham mit Anschuldigungen gegen Oliver Stone behauptet das Verhalten der Mehrzahl unerklärt, die noch niemanden ermordet oder erpreßt hat. Ein simples Reiz-Reaktions-Schema scheint also nicht auszureichen, um die Wirkmechanismen von Medien unter einen Hut zu bekommen.

Allein die quantitative Feststellung infantiler Phänomene bestätigt dann auch nicht mit hohem Sicherheitsgrad bereits sowohl die These, daß die gesamte Gesellschaft zunehmend verkindlicht, als auch die, daß das Fernsehen dabei eine maßgeblich verstärkende Rolle einnimmt.

Tatsächlich irritieren aktuelle soziologische Fakten zur bundesrepublikanischen Gesellschaft die Erwartungen, die die Aussagen der oben beschriebenen Medienkritik implizieren. Ulrich Beck zeigt in seinem kürzlich erschienenen Aufsatz "Wider das Lamento über den Werteverfall" (Frankfurt 1997), daß vor allem die jüngeren Gesellschaftsmitglieder sich zwar immer weniger in Parteien, Kirchen oder anderen öffentlichen Vereinigungen engagieren, sieht darin allerdings nicht Anzeichen des Rückzugs oder sozialen Desinteresses, sondern maßgeblich das Versagen der Institutionen gegenüber gegenwärtigen Problemstellungen. Die gegenwärtige hyperindividualisierte Jugend sei keineswegs verantwortungslos, sondern entscheide sehr bewußt, wofür sie sich engagiert. Politisches Interesse und sozialer Einsatz kämen jenseits etablierter Institutionen durchaus zum Ausdruck.

Der Münchener Sozialpsychologe Heiner Keupp argumentiert ebenfalls in diese Richtung und findet in der jungen Generation ein "frei flottierendes Potential an Gemeinsinn". (Vgl. Hoch, Marc: Schlechte Zeiten, gute Zeiten. Wider den Kulturpessimismus. SZ Nr. 117 / 1997) Er berichtet bspw. vom Engagement von 10 Mio. Ehrenamtlichen in Deutschland, was eine Vervierfachung gegenüber Zahlen aus den 60er Jahren darstellt.

Von voreingenommener Bekräftigung der allgemeinen Anklage gegen das Fernsehen soll also Abstand genommen werden. Vielmehr gilt es, die Prämissen der kritischen Positionen zu untersuchen und die wichtigsten Aspekte zur Diskussion zu stellen. Bei allen beschriebenen Standpunkten finden sich die folgenden Parallelen:

  • Das Individuum wird fast ausschließlich als verführbare Größe betrachtet, die dem "System" ausgeliefert ist. Es wird davon ausgegangen, daß der Fernsehrezipient nicht über Unterscheidungsvermögen zwischen Realität und Fernsehrealität verfügt.
  • Das Fernsehen wird als zentrale kulturelle Instanz angesehen, die die gesellschaftliche Realität relativ umfassend widerspiegelt.
  • Infantilität wird einseitig mit ihrer regressiven Komponente gleichgesetzt.

Fernsehrezeption und Status des Fernsehens

Mit der Vervielfältigung des Angebots durch private Sender hat das Fernsehen nach der öffentlich-rechtlichen Phase seinen Ereignischarakter heute verloren. Vom Lebensmittelpunkt "Fernseher" im Sinne eines "Lagerfeuers", um das sich die Familie versammelte, wurde Fernsehen eher zum beiläufigen Konsumgut. Dadurch entstanden neue Rezeptionsformen, bspw. Zapping, die wiederum die Fernsehästhetik performieren. Da die oben beschriebenen Autoren ein kommunikatives Schema zwischen Fernsehangebot und Rezipienten unterstellen, das von objektiver Informationsübermittlung ausgeht, lassen sich solche Vorgänge als tendenziell oberflächlich beschreiben.

Aus konstruktivistischer Perspektive wäre dem allerdings insofern zu widersprechen, als Bedeutungen nicht innerhalb des Medienangebots, sondern vor allem in der Wahrnehmung und im Interesse des einzelnen Individuums entstehen. (Vgl.: Schmidt, S.J.: Konstruktivismus in der Medienforschung. In: Merten, K. / Schmidt, S.J. / Weischenberg, S. (Hg.): Die Wirklichkeit der Medien. Opladen 1994, S. 615 ff.) Scheffer bemerkt in diesem Sinne: "Ausgehend von konstruktivistischen Grundannahmen gibt es keine Trennung von Welt-Wahrnehmung und Welt-Interpretation. Erkennen, Wahrnehmen und Interpretieren fallen zusammen." (Scheffer, B.: Interpretation und Lebensroman. Frankfurt 1992, S. 41). Fernsehzuschauer können also aus ein und demselben Programmangebot völlig unterschiedliche Komplexitätsqualitäten schaffen. Beispiel "Camp": Ein simpler Derrick-Kriminalfall wird durch die "campy" Rezeption zum hochkomplexen Gesellschafts-Analyse-Spiel. (Vgl. Sonntag, Susan; Notes on camp, New York 1964/1983).


Fernsehen als konkurrierendes mediales Angebot

Parallel zu der Tatsache, daß gesellschaftliche Interessen im ausgehenden 20. Jahrhundert immer weniger mittels zentraler Kategorien wiedergegeben werden können, hat auch das Fernsehen seinen Status als zentraler Meinungsgenerator der Nation längst verloren. Zum einen müssen die Fernsehrezipienten - anstatt dem Programmschema eines einzigen Senders zu folgen - mit der Verbreiterung des Angebots zunehmend auswählen, zum anderen existiert das Fernsehen als Medium im Kontext heutiger gesellschaftlicher Realität neben vergleichbaren Kommunikationsinstrumenten wie bspw. dem Internet. Im Zuge der technischen Entwicklung (z.B. der Digitalisierung) dürfte sich die Medienlandschaft in Zukunft noch rasanter verändern.

Gleichlaufend verändert sich damit auch der gesellschaftliche Stellenwert eines Mediums. Zum Vergleich: In Europa ereignete sich der Umbruchs von der mündlichen zur schriftlichen Überlieferung zunächst innerhalb einer klerikalen gesellschaftlichen Elite. Der Respekt vor dem geschriebenen Wort war immens. Nach der Erfindung des Buchdrucks gab es dann einen Weg von der Bibel bis zum Lore-Roman, ohne daß jedoch mit der Verbreitung weniger komplexer Lektüreangebote der Verlust hochkomplexer Literatur einhergegangen wäre (wie die oben beschriebenen Positionen implizieren). Eine ähnliche Spezifizierungsbewegung erlebt derzeit das Medium Fernsehen. Dabei bewirkt bereits alleine die Kapazitätsausweitung eine Vermehrung infantiler Spielflächen, was jedoch nicht heißt, daß diese Spielflächen nicht vorher durch andere Medien gewährleistet waren. Da in diesem Sinne jedoch heute der simple Knopfdruck zum "Trivialen" führt (statt der Weg zum Kiosk o. ä.), werden zum einen mehr Menschen im Rahmen von mehr Freizeit von Sendungen trivialen Zuschnitts erreicht, zum anderen begegnen dadurch auch gebildetere Schichten diesem Phänomen. Diese hätten möglicherweise den Lore-Roman und damit den trivialen Content zu Zeiten der Dominanz anderer Medien nicht gekauft, würden sich ihm damit nicht ausgesetzt sehen. Also werden sie mit außerhalb ihres üblichen Repertoires liegenden Phänomenen stärker konfrontiert - und frappiert.


Nur Regression?

Schon der 1938 veröffentliche kulturhistorische Essay "Homo ludens" des niederländischen Kulturphilosophen und Historikers Johan Huizinga stellt mit seinem Titel den Begriff des "Homo sapiens" in Frage und behauptet, menschliche Kultur entstünde vor allem anderen in und aus Spiel. Es geht ihm nicht darum, welchen Platz das Spiel unter den übrigen Kulturerscheinungen einnimmt, also Spiel als Produkt von Kultur zu sehen, sondern vielmehr darum, inwiefern Kultur selbst Spiel ist, Spiel Kultur konstituiert. Huizinga beweist seine These anhand unzähliger Beispiele aus allen Zeiten und Kulturen. In allen Bereichen von Politik, Rechtsprechung, religiösem Kult, Wissenschaft, Dichtung und Philosophie findet er Formen von Spiel, die über die Sphäre des sogenannten Notwendigen, der Befriedigung menschlicher Elementarbedürfnisse, hinausgehen. Hierbei wird deutlich, daß das Fehlen einer unmittelbaren Zielorientierung, sprich: Unterhaltung, einen wesentlichen Aspekt menschlichen Daseins ausmacht.

Genausowenig ist von der Hand zu weisen, daß kindliche Aspekte durchaus auch zum kulturellen Progress beitragen. Eigenschaften wie Naivität, Unmittelbarkeit, Emotionalität haben bspw. in der bildenden Kunst immer wieder eine Erweiterung der ästhetischen Mittel bewirkt - und den Ausbruch von Entrüstungsstürmen seitens des Kulturetablissements. Trotz teilweise infantiler Formensprache: Die Arbeiten von Paul Klee bis Jeff Koons, Pierre et Gilles, oder Eva und Adele werden längst als komplex eingeordnet. Es zeigt sich also, daß die pure Reduktion des Infantilitätsbegriffs auf regressive Elemente nur eine ausschnitthafte Betrachtung darstellt.


Infantilisierung - ein mediales Phänomen?

Es soll nicht bestritten werden, daß Infantilität im Sinne eines Rückzugs auf Verhaltensformen von geringer Komplexität ganz allgemein ein existierendes Phänomen ist. Trotzdem ist den Schlußfolgerungen der anfänglich beschriebenen AutorInnen entschieden zu widersprechen:
Es macht keinen Sinn, "das Fernsehen" als ursächliche Größe einzuführen ohne die kulturelle, gesellschaftliche, soziale Situation einzubeziehen, innerhalb der es stattfindet. Darüberhinaus handelt es sich bei den konstatierten Phänomenen weder um tatsächlich neuartige noch um herausragende. Viel eher führen überkommene Auffassungen gegenüber Rezeptionsgewohnheiten und dem gesellschaftlichen Status des Fernsehens zu verstärkter Wahrnehmung dieser Phänomene und damit zum kulturkritischen Warnruf nach Rettung der E-Kultur. Barbara Sichtermann schreibt dazu in der ZEIT (42/96): "Die Kritik macht den Fehler, z.B. den Nachmittagstalk an Sendungen klassischen Zuschnitts zu messen. Sie hängt ihren Gegenstand viel zu hoch, unterstellt ihm immer noch, er wolle - und solle - die gesamte Republik erschüttern. Sie schießt mit Kanonen auf Spatzen."

Eine Medienkritik, die die veränderten Bedingungen und Möglichkeiten des untersuchten Mediums wie auch seiner Rezipienten unterschlägt, muß daher eindimensional bleiben. Die pauschale These der infantilisierenden Einflußnahme des Fernsehens bedient zwar die Ängste derer, die schon immer wußten, daß "früher alles besser war", gibt aber wenig Aufschluß darüber, was im Umgang mit Medien tatsächlich vor sich geht. Sie erlaubt dafür, in festgefahrenen hochkulturellen Schemata zu verharren und die vielgepriesene Verantwortung nach außen abzugeben.



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