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Oliver Jahraus

Was ist Medienwirklichkeit?
Oder: We got him!

Was ist eigentlich Medienwirklichkeit? Das heißt, dass nicht die Wirklichkeit wirklich ist, nicht das Wirkliche die Wirklichkeit bestimmt, sondern das Mediale wirklich ist und die Medien wirklich sind. Medienwirklichkeit ist charakterisiert durch den Umstand, dass nicht die Nachricht eines Faktums unsere Wirklichkeit bestimmt, sondern die Art und Weise ihrer medialen Inszenierung. Das klingt zu abstrakt? Nehmen wir ein Beispiel: Paul Bremer, der amerikanische Zivilverwalter des Irak, tritt vor die versammelte internationale Journalistenmannschaft und gibt eine außerordentliche Pressekonferenz. Er tritt ans Pult, spricht seine Begrüßungsformel und macht eine Kunstpause - und was für eine Kunstpause. Und dann sagt er zunächst nur den kurzen Satz: „We got him!“ Und wieder eine Pause. Mehr muss er vorerst auch nicht sagen. Alle wissen Bescheid. Was solche medialen Inszenierungen angeht, sind die USA wirklich uneingeschränkte Supermacht. Das war nun wirklich nicht zu übertreffen. Ein beeindruckender Auftritt. Die ganze Inszenierung ist perfekt. Natürlich: Das Faktum verschwindet hinter den Bildern, die es eigentlich abbilden sollen.

Schauen wir etwas genauer hin: Man sieht den Saal der Pressekonferenz, gezeigt aus einem Wechsel zwischen Nahaufnahme und Totale. Man sieht die Journalisten und dann wieder Paul Bremer, der die Nachricht verkündet, und dann wieder die Journalisten. Und dann sieht man zwei Dinge, die so weit auseinanderliegen, dass man sie gar nicht einander zuordnen kann, obschon sie demselben Kontext entstammen:

Zum einen sieht man arabische Journalisten, wie es später heißt, die es sich nicht nehmen lassen, 'ihm’ lautstark den Tod zu wünschen. Was das soll, ist schwer einzuschätzen. Sind sie wirklich so von Hass erfüllt? Folgen Sie einer Konvention, die das westliche Fernsehen nicht angemessen adaptieren kann? In jedem Fall aber fallen sie hinter die Inszenierung zurück. Man erkennt die arabischen Journalisten, die so rufen nicht, sie bleiben im dunklen Hintergrund des Bildes. Sie gehören nicht zur Strategie der amerikanischen Televionsinszenierung. Sie passen im wahrsten Sinn des Wortes nicht ins Bild. Denn diese öffentliche Todesforderung gehört eher zu 'seinem’ Arsenal medialer Inszenierungen, das aber lange nicht so subtil und perfekt funktioniert wie dasjenige, was wir gerade in einem seiner Highlights beobachten.

Deshalb geht der Blick von ihnen schnell wieder ab und zeigt etwas anderes, was geradezu symptomatisch ist: man sieht - zum zweiten - 'ihn’. Aber er ist gar nicht präsent - und das ist das Entscheidende. Es gibt einen Zoom auf die Videoleinwand im Raum, und auf der Videoleinwand ist 'er’ zu sehen. Und zwar in perfekter Maske. Der lange Bart, ein bisschen weiß schon, man sieht einen alten Mann, ein wenig von der Situation überfordert. Ein Arzt, der die vorgeschriebenen Gummihandschuhe ordnungsgemäß trägt, schaut 'ihm’ in den Mund. Eine Hand des Arztes hält ein kleines Holzstäbchen, die andere beleuchtet 'seinen’ Schlund.

Es ist ein geradezu groteskes Schauspiel. Dass da eine Beute vorgeführt wird, ist allen klar und wird ja auch nirgends verschleiert. Dass ein Arzt einem Diktator in den Hals schaut, das mag es mehrfach gegeben haben, aber dass diese Bilder die Welt umkreisen - das ist neu. Man demonstriert damit einerseits die exakte Einhaltung von Menschenrechtskonventionen und scheint sie doch gleichzeitig zu verletzen. Man hat einen Gefangenen gemacht und ist augenblicklich für dessen Gesundheit verantwortlich. Aber gleichzeitig wird demonstriert, dass man nunmehr die Macht hat, 'ihm’ in den Hals zu schauen. Es hat etwas Voyeuristisches. Und es soll uns Zuschauern ja auch Lust bereiten. Schaut nicht der Dompteur auch immer in den Hals der Bestie? Ist das nicht eine kanonische Zirkusnummer? Hitler übrigens hat diesen Zirkustopos in den letzten Bunkertagen verwendet, um seinen Suizid zu rechtfertigen. Warum eigentlich in den Hals? Vielleicht weil es die einzige sozial akzeptable Körperöffnung ist, die man vor den Augen des Publikums so zur Schau stellen darf. Später schneidet man ihm seinen Bart ab, damit er aussieht wie früher. Aber den Friseur sehen wir nicht. Schade eigentlich.

Ein seltsamer Zusammenhang tut sich auf: Man zeigt, wie man der Verantwortung nachkommt, und manche fragen, ist nicht gerade diese Zurschaustellung selbst verantwortungslos. Man kümmert sich, übrigens auf 'seine’ Bitten hin, wie man hört, um seine Zähne, und zieht sie 'ihm’ gleichzeitig - allerdings im übertragenen Sinn. Darf man das, verstößt das gegen die Genfer Konvention? Vielleicht eine müßige Diskussion angesichts eines solchen Mannes. Und noch müßiger angesichts der Logik der Bilder. So darf man auch fragen, ob er nicht selbst für diese Logik der Bilder verantwortlich zu machen ist, gerade jetzt, wo er sie nicht mehr beherrscht.

Aber es gehört zu den grandiosen Überformungen dieser Inszenierung, dass es dabei nicht bleibt. Ein Arzt schaut sich 'ihn’ an. Und damit soll 'er’ uns gleichzeitig gezeigt werden. Es gebt um die visuellen Demonstration des Beweises: Schaut her, wir haben ihn wirklich. Daran besteht kein Zweifel. Aber wir sehen ja nicht nur ihn, sondern wir sehen auch, wie er selbst nunmehr gesehen wird. Diktatoren sind immer grandiose Selbstdarsteller in grandiosen Selbstinszenierungen; sie sind die Subjekte ihrer Repräsentation. Was man hier sieht, ist das Gegenteil. 'Er’ ist das Objekt von Beobachtung, einer ärztlichen, einer absolut korrekten, wenig mitfühlenden, aber ansonsten tadellosen Beobachtung.

Und jetzt kommt der Clou. Vielleicht war es technisch nicht anders möglich, vielleicht gehörte es zur Inszenierung. Der Zoom auf das Videobild im Saal der Pressekonferenz. Es wird nicht auf das Videobild übergeblendet, sondern nur darauf zugezoomt, so dass das Videobild fast, aber eben nur fast den gesamten Fernsehbildschirm ausfüllt. Man sieht nicht nur das Videobild. Immer noch sieht man auch, dass man ein Videobild sieht - und zwar dasjenige, dass die Journalisten eben auch sehen. Wir sehen, wie Journalisten sehen, wie ein Arzt 'ihn’ sieht. 'Er’ ist nur noch Anlass einer solchen Inszenierung. Vielleicht ist das schon die schlimmste Strafe für ihn.

Er macht nämlich keine gute Figur, was Peter Scholl-Latour höchstpersönlich noch am selben Abend amtlich bestätigt. Manche sagen, 'er’ hätte sich umbringen sollen. Vor allem sind es diejenigen, die ihn immer noch als Helden, als Führer der arabischen Nation gesehen haben, als denjenigen, der die andauernde Schmach, die den Arabern angetan wird, tilgen sollte. Andere kommentieren dies: Den Amerikanern wäre dadurch die Last erspart geblieben, nunmehr entscheiden zu müssen, was mit 'ihm’ passiert. Aber es gibt auch die andere Seite: Diese Bilder zerstören einen Mythos und vernichten einen Märtyrer, und das kann den Amerikanern langfristig vielleicht mehr nützen. Nur selten ist eine solche hypertrophe Selbstinszenierung (wie die 'seine’) so kläglich zusammengebrochen. An die Zerstörungskraft solcher Bilder kommt kein militärisches Mittel heran. Aber was daran deutlich wird, ist wieder einmal, dass wir nur Inszenierungen vergleichen, bemessen, bewerten. Letztlich erweist sich die intelligentere, komplexere, funktionalere Inszenierung als die siegreiche.

Wie das moralisch einzuschätzen ist, das ist ein anderes Problem. Ich halte dies für eine offene Frage, und gebe nur zu bedenken, dass eine moralischen Einschätzung die Logik der Bilder nicht gänzlich außer acht lassen darf. Die Berichterstattung wurde ausgiebig bebildert, und zwar im großem Umfang mit Bildern, die 'er’ selbst veranlasst hat. Natürlich steckt dahinter eine Strategie, die große Fallhöhe aufzuzeigen. Es funktioniert nach dem Motto: Seht her, so hat er sich selbst gesehen, und so sieht er jetzt aus. Vielleicht beschreibt das alte Sprichwort 'Hochmut kommt vor dem Fall’ nicht zuletzt oder überhaupt nur ein Gesetz aus der Logik der Bilder. Bevor man die Bilder verurteilt, muss man 'seinen’ Anteil daran auch zur Kenntnis nehmen.



Verfasser: oliver.jahraus@gmx.de ; Datum der Veröffentlichung: 19.12..2003;
   


 
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