Schlingensief / Freakstars 3000/


Nina Ort


„Ihr seid krank!“ – „Ihr seid schon jetzt alle Gewinner!“


Neulich, nachts beim Zappen, stieß ich zufällig auf eine Show, die mich zuerst ein wenig ungläubig staunen ließ, dann aber sofort fesselte: Es war eine Art „Deutschland sucht den Superstar“-Show, die mich, anders als die gewohnten langweiligen, aalglatten, aber offenbar populären Shows, nach der ersten Verblüffung vollkommen faszinierte. Alle Show-Kandidaten sind geistig Behinderte, die, gemeinsam mit Christoph Schlingensief, voll Begeisterung, Engagement und mit sichtlich größtem Vergnügen eine Superstar-Show inszenierten, samt Jury, diskutierendem Presseclub, politischem Streitgespräch und Tonstudio – in jeweils passender Kostümierung. Ich muss zugeben, dass ich bei dieser Sendung einen Lernprozess durchmachte, wofür ich nun Schlingensief und den geistig behinderten Superstar-Aspiranten dankbar bin.

„Freakstars 3000“ ist eine wunderbare Show, die am 9. August 2004 zum ersten Mal als Film im Fernsehen bei VOX ausgestrahlt wurde und nun ins Kino und auch als DVD in den Handel kommt. Auch die CD der aus der Show hervorgegangenen Band „Mutter sucht Schrauben“ kann man käuflich erwerben. Der Film geht auf ein sechsteiliges Projekt zurück, das auf Viva plus und Viva 2002 startete. Schräg ist der Film, lustig und vor allem: beeindruckend. Selten habe ich bei einer Show so viel gelacht, mit (nicht über) den geistig Behinderten, über all die Pannen, die ulkigen Vorträge, das Lampenfieber, die skurrilen Vorführungen – und es wurde mir klar, dass ich noch nie so viel Spaß bei einer der „normalen“ Superstar-Shows hatte. Und wer würde sich nicht amüsieren, etwa bei Helgas Vortrag von „Sah ein Knab’ ein Röslein stehn“, mit dem sie es zum Bandmitglied schaffte?

Der Regisseur Hans-Joachim Paczensky verwirklicht mit diesem Projekt ein atemberaubendes Spektakel, in dem Behinderte sich in einem Wettbewerb für die Band „Mutter sucht Schrauben“ zu qualifizieren bemühen. Unter über tausend Bewerbern werden zwanzig Kandidaten ausgewählt – mit ihnen geht es durch alle Instanzen, vom ersten Vorsingen bis zur Produktion des Albums. Im Film wird der bekannte Satz gesagt: „Durch Deutschland muss ein Ruck gehen!“ Diesmal geht die Botschaft an uns Zuschauer dieses Films, und er bekommt eine Bedeutung, die tatsächlich zum Nachdenken anregt. Selten werden wir dermaßen radikal aus unserer Fernsehgemütlichkeit herausgerissen. Selten wird einem derart deutlich bewusst gemacht, wie fade und verkitscht die „normale“ Fernsehlandschaft der Null-Acht-Fünfzehn-Shows ist. Mit dem nur zu verständlichsten Anspruch auf einen Platz in der Öffentlichkeit treten sie auf, die Freakstars. Und Mutter-sucht-Schrauben-Bandmitglied Horst Gelonneck stellt auf der Schlingensief Homepage, http://www.schlingensief.com/, unmissverständlich klar:

Um eines deutlich zu sagen: Sollte irgendein Heilsbringer FREAKFILM besuchen, um Verständnis zu heucheln oder sein Gewissen zu polstern, dann fordere ich ihn jetzt schon auf, Kinokarte und Popcorn ins Klo zu schmeißen.

Bereits in der SZ vom 8.6.2002 mutmaßte Katja Hübner angesichts des damals in wöchentlichen Häppchen gezeigten Projekts, Schlingensief sei „vielleicht der moralischste Entertainer Deutschlands“ und bestätigte damit die große Mehrheit der Kommentare zu diesem Projekt. Warum, so liest man, sollten nicht auch Behinderte im Fernsehen eine Casting Show bekommen, warum sollten sie nicht im Fernsehen zu aller Belustigung schlecht singen dürfen, wie die Kandidaten der herkömmlichen Casting Shows auch? Warum würde kurzschlüssig so oft vermutet, man lache jemanden aus, nur weil man über ihn lacht? Begrüßt wird, dass geistig Behinderte auf diese Weise Gelegenheit bekommen, am öffentlichen Leben teilzunehmen, und augenzwinkernd wird kommentiert, dass diese Parodie auf die einschlägigen Superstar-Shows einen zum Nachdenken bringt, wer denn etwa nicht behindert sei.

Mit meinem Denkprozess stehe ich wohl nicht allein da. Das Gästebuch der Homepage des Projekts, http://www.freakstars3000.de.html, dokumentiert die Eindrücke der Zuschauer ebenfalls als solchen. Die ersten Eindrücke werden bereits während der Ausstrahlung des Films gepostet, die meisten begeistert, viele bekunden – immerhin ehrlich – ihre absolute Verunsicherung und Ratlosigkeit, und dann gibt es noch die Empörten. Die ersten Kritiker melden sich bereits ab halb eins. Nach etwa 20 Minuten Film wird dann bereits abgeurteilt: „fernsehn zum abgewöhnen“, gewarnt wird davor, dass immerhin auch Jugendliche den Film sehen könnten – mit welchen, hier offenbar unterstellten, jugendgefährdenden Konsequenzen bleibt leider unklar. Manche nahmen sich nicht einmal die Zeit, den Film ganz anzusehen, um ihn verstehen zu können, sondern wettern schnurstracks drauf los: „Solche Geschmacklosen Sendungen sollten ganz einfach Verboten werden.“ – soviel zum entkrampften Umgang mit Behinderten.
Um es aber gleich vorweg zu nehmen: schon am 10. August ist die überwältigende Mehrheit der Beiträge voll Zustimmung, Respekt wird zu Ausdruck gebracht.

Interessant ist allerdings, wie es dem Film gelingt, die Gemüter zu spalten – und erschreckend sind insbesondere die kritischen Stimmen, die sich alle fatal ähneln. Nur als Präambel wird dort jeweils der Vorwurf geäußert, Schlingensief instrumentalisiere geistig Behinderte, er schlage Geld aus der Zurschaustellung geistiger Behinderung. Dabei wirkt es einigermaßen peinlich, wenn Zuschauer artig über das Stöckchen springen, das Schlingensief bereits mit dem Titel „Freakstars“ hinhält, und sich darüber aufregen, hier würden Behinderte vorgeführt „wie im Mittelalter“. Der eigentliche Vorwurf, der dann von vielen Stimmen geäußert wird, lässt allerdings in tiefe Abgründe gucken.

Nach dem Argument, das Projekt sei nur ein weiterer Schritt, um neben zugegebenermaßen dümmlichen Reality und Talk Shows nun auch noch aus geistig Behinderten Profit zu schlagen, wird dann nämlich im nächsten Satz und mit bedenklicher Logik beispielsweise der Ruf „Armes Deutschland!“ laut – und dies gleich in mehreren Einträgen. Und damit zeigt sich, in welche Richtung, die eigentliche Kritik an „Freakstars 3000“ geht:

Wer diese Sendung als Versuch der Integration sieht, der ist weltfremd. Leute wie Sie sind das kranke Fleich [sic!] unserer Gesellschaft, dass es weg zu schneiden gilt.

Unklar bleibt, wer mit diesen schrecklichen, biologistischen Metaphern des Naziregimes gemeint ist, die Macher des Films oder doch die Protagonisten – wes Geistes Kind hinter solchen Äußerungen steckt, wird jedenfalls erschreckend deutlich.

Was in diesem Gästebuch an emotionalen Ausbrüchen dokumentiert ist, wird von professionellerer Medienseite dann auf den Punkt gebracht. Auf Schlingensiefs Homepage, http://www.schlingensief.com/, gibt es kommentiertes Pressematerial zu lesen. Dass auch die Presse Probleme hat im Umgang mit dem Thema geistiger Behinderung, zeigt beispielsweise CINEMA, die den Film als „talentfreie, weil von Krankheit verseuchte Zone“ betrachtet. Am grellsten erscheint aber der Kommentar der BUNTEn: „ein Deutschland, das es so nicht gibt und das wir auch nicht wollen.“

Ist das Verdrängung? Ist das der Ruf nach Wegsperren und Wegsehen? Der widersprüchliche Ruf nach dem Verstecken und Verdrängen von etwas, das ohnehin – schlimmer Weise – aus dem öffentlichen Leben immer noch verbannt ist, klingt, wenn man es gutmütig interpretieren will, jedenfalls enorm zwangsneurotisch.
Vielleicht muss man es als traurigen Nebenerfolg des Films verbuchen, der immerhin so provozierend ist, dass er einigen Mitgliedern unserer Gesellschaft auf so entlarvende Weise derartige Spontanreaktionen entlockt. Mit den Worten des Regisseurs Paczensky kann man da nur rückfragen:

War Ihnen der cineastische Anblick Behinderter in Verbund mit dem nicht inszenierten Ausdruck von Lebensfreude unangenehm? [...] Geht es Ihnen wirklich um eine Verletzung der Würde behinderter Mitmenschen? Oder geht es nicht vielmehr darum, daß Sie es sich selbst in Ihrer Menschenwürde bequem gemacht haben und sich jede Infragestellung Ihres ganz eigenen Wertekanons verbitten?

Den Freaks ist meiner Meinung nach eine glanzvolle Parodie auf Shows wie die von Dieter Bohlen gelungen, die auf subtile Weise die Frage aufwirft, wer denn eigentlich behindert sei. Erfrischend sind die Superstarkandidaten, in ihrer Authentizität und Glaubwürdigkeit, wie sie selten in Shows zu finden ist. Insgesamt ist das Projekt einfach eine wunderbare Provokation all jener, die unter dem Deckmäntelchen des Wohlmeinenden Behinderte gerade dadurch diskriminieren, indem sie sie – angeblich schützend – vom öffentlichen Leben fern halten wollen. Diesem selbstbewussten Auftritt und dieser herrlich humorvollen Selbstinszenierung geistig Behinderter kann man nur Applaus geben – und sich dem Urteil der Jury anschließen: „Ihr seid schon jetzt alle Gewinner!“
Schade nur, dass der Film sehr spät, kurz nach Mitternacht gezeigt wurde – also doch noch ein wenig verschämt, in einem geschützten Raum, abseits von den Sendezeiten mit dem großen Publikum.



Verfasser: nina.ort@germanistik.uni-muenchen.de ; Datum der Veröffentlichung: 16.08.2004
   


 
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