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Oliver Pfohlmann Der Mensch, geschält und entkernt Ein Besuch der Münchener „Körperwelten“-Ausstellung Samstag, 17. Mai 2003: Nun will auch ich die „Leichenschau“ sehen. Doch der Tag ist, wie sich herausstellt, ungünstig gewählt. Schon in Bamberg Dutzende, mit jedem weiteren Bahnhof mehr werdende Bayern-München-Fans, viele steigen gleich mit Bierkästen zu. Mehrmals wechsle ich entnervt das Abteil. Was ist der Mensch. Dass an diesem „Spieltag“ die Meisterschaft gefeiert werden soll, ist mir natürlich entgangen. Daher begleiten mich die Fans auch noch in München treu. In der zum Erbrechen vollen U-Bahn Richtung Olympiapark grölt es um mich herum: „Wiiiir wolln die Schaaale sehn!“ Worauf ich, man hat ja Humor, hinzufüge: „Iiiiich will die Leichen sehn!“ Nur in Gedanken, versteht sich. Distinktionsbedürfnis, natürlich. Im Olympiapark dann gemeinsam mit den Frohgemuten Richtung Stadion marschiert, wo sich die Wege endlich trennen. Allerdings zeigen auch die Ausstellungsmacher Fußballherz: Wer nach dem Spiel mit seiner Eintrittskarte zur wenige hundert Meter entfernten „Körperwelten“-Schau kommt, verkünden aufgestellte Plakate, erhält zur Feier des Tages ermäßigten Eintritt. Meine Hoffnung, dass an diesem Tag dann zumindest weniger Besucher da sein würden, erfüllt sich nicht. Vor dem Eingang eine endlose, geduldig in der Hitze wartende Schlange, „eine Stunde Wartezeit“ steht auf einem Schild. Zum Glück habe ich einen Presseausweis. Wenig später geht’s noch eine Rolltreppe hoch, dann stehe ich endlich vor einem „Ganzkörperplastinat“. Der erste Eindruck: Es wirkt überraschend künstlich. Damit habe ich nicht gerechnet. Hat mich doch gerade die „Faszination des Echten“ – so der Untertitel der Schau – gelockt. Aber wie die präparierten Körper so gehäutet dastehen, hell angestrahlt, in lebendig-kräftigen Fleischfarben und bewegter Pose, unter futuristischen Metallbögen, ohne Absperrung, dass man sie jederzeit anfassen könnte, jede von ihnen umschwirrt von einer Traube faszinierter Besucher – da wird das Wissen, dass das, was hier gehäutet und zerlegt herumsteht oder -hängt, einmal ein Mensch gewesen ist, eine Person, die geliebt und gehasst hat, zu etwas sehr Unwirklichem. Eher sehen die klinisch sauberen, geruchfreien Plastinate wie perfekte Nachbildungen aus. Eine Begegnung mit dem Tod habe ich mir anders vorgestellt. Ist das der Grund, warum so viele Menschen – in München bislang 500 000, in Berlin über 600 000, über 11 Millionen weltweit – sich diese Schau antun können? Bei den ersten Stationen steht vielen Besuchern noch die Skepsis ins Gesicht geschrieben, ein diffuses Misstrauen und die Furcht vor möglichen unerträglichen Anblicken. Den Frauen mehr als den Männern. Viele haben schutzsuchend die Arme vor der Brust verschränkt, die Schultern etwas eingezogen; einige scheinen noch nicht recht zu wissen, ob sie sich nun ekeln sollen oder nicht und gucken immer wieder mal, wie’s die anderen machen. Die Hände in den Hosentaschen, bemühen sich die Herren der Schöpfung dagegen mehr um Lässigkeit. Die Distanziertheit legt sich aber bei beiden Geschlechtern schnell. Schon wenige Plastinate und Schaukästen später ist das Erfolgsrezept des Professors mit dem Beuys-Hut, der die Menschheit endlich über das Wunderwerk des eigenen Körpers, seine Schönheit und Verletzlichkeit, seine Komplexität, aufklären will, aufgegangen. Ein Rezept, das, glaube ich, eine wohl kalkulierte Mischung darstellt: Die seltene Konfrontation mit Leichen und Tod, der untergründige Horror, die erhabene Schaulust angesichts solch grauenvoller Anblicke sind nur die eine Lustquelle, die allerdings seit wenigen Jahren drauf und dran ist, Mainstream zu werden: Fernsehsender und Verlage haben den medical thriller entdeckt und versorgen ein offenbar wachsendes Publikum mit immer neuen haarsträubenden Stories um (meist weibliche) Pathologen, ungeklärte Mordfälle und zu obduzierende Leichen oder Leichenreste (vgl. dazu Kolja Mensing: Pathologie und Pathos, TAZ v. 17.5.2003). Schwer zu sagen, ob von Hagens „Körperwelten“-Schau, die seit 1996 um die Welt tourt, ebenfalls auf dieser Erfolgswelle schwimmt oder ob sie für ihre Entstehung sogar mitverantwortlich ist, die Lust am Anblick geöffneter Eingeweide für ein breites Publikum sozusagen salonfähig gemacht hat. Dennoch wären wohl nur wenige bereit, diese Lust
zuzugeben oder sie sich auch nur einzugestehen. Entscheidend für
den Erfolg der Ausstellung scheint gerade die ästhetisch-aseptische
Präsentation der Plastinate, die den Horror nicht nur mildert,
sondern geradezu aufhebt in einem höheren Kunstobjekt, das wie
ein Vexierbild schön und schrecklich zugleich ist. Und wie immer
grauen- oder mitleiderregend der Körper auch zerlegt und ausgenommen
wurde, die gelassene, freundliche, manchmal sogar stolze Mimik auf den
gehäuteten Gesichtern dementiert die Berechtigung derartiger Gefühlsreaktionen
wirkungsvoll, überzeugt die Besucher davon, dass hier nichts Falsches
geschehen ist, im Gegenteil. Ausgeräumt werden moralische Bedenken,
die vielleicht zuvor noch bestanden haben, auch durch das Gemeinschaftserlebnis.
Wenn sich so viele mit uns zusammen angeregt Derartiges ansehen, es
sogar noch der medizinischen Aufklärung dient, kann der eigene
Voyeurismus nicht ungehörig sein. Erstaunlich und irgendwie wirklich ans Wunderbare grenzend ist aber nicht nur, wie der Mensch innen drin so aussieht. Erstaunlich ist auch, was man mit so einem Körper alles anstellen kann. Niklas Luhmanns Unterscheidung von Form und Medium bekommt hier einen ganz neuen Sinn: Das patentierte Präparations- und Plastinationsverfahren des Professor Gunther von Hagens, bei dem mittels einer Vakuumkammer dem Körper sämtliche Gewebsflüssigkeit und alles Fett entzogen und durch Reaktionskunststoffe wie Silikonkautschuk oder Polyester ersetzt wird, erlaubt es, die „Körperspender“ als ein Medium zu behandeln, dem beliebige Formen abgewonnen werden können. Jede lebensechte Pose ist möglich: Ein weibliches Plastinat wird beim Kraulen gezeigt, ein männliches beim Waldlauf, ein anderes beim Basketballspiel. Man kann den Körper beliebig tief, schichtweise freilegen und ganz oder teilweise aufklappen. Kann ihn schälen oder entkernen. Kann mal nur die Muskeln entfernen, mal einzelne Organe und mal alles bis aufs Skelett und die schnurartigen Nervenstränge. Oder kann von Gliedmaßen nur die Blutgefäße übriglassen, die dann als filigrane, fein verästelte rot-zarte Gebilde in Schaukästen ätherisch schweben. Man kann den Körper auch in Scheiben schneiden wie eine Tomate. Oder in eine Kunstlösung einlegen, härten lassen und dann wie eine Wurst zerschneiden, wodurch man faszinierende und, recht besehen, erstaunlich schöne Querschnitte erhält, vom Oberschenkel, vom Unterleib oder vom Schädel, in dem vom Gehirn nur noch schlangenförmige Windungen übrig geblieben sind. Man kann in den Körper auch an beliebigen Stellen Fensterchen und – da hat man sich wohl von Dalí inspirieren lassen – Schubfächer einschneiden, die man herausziehen oder aufklappen kann: Der Mensch als Kühlschrank, der mit freundlicher Miene sein Innerstes präsentiert. Angenehm freundlich haben freilich schon die anatomischen Präparate der Renaissance dreingeschaut. Mit großformatigen Reproduktionen von Zeichnungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, die die Wände der Ausstellungshalle schmücken, stellt sich von Hagens selbstbewusst in diese Anatomietradition und stilisiert sich zum Nachfolger Leonardo da Vincis und des englischen Chirurgen John Browne, der in Lehrzeichnungen lächelnde Menschen mit geöffneten Leibern in lebendiger Pose in eine Landschaft stellte. Bei von Hagens hält ein Muskelmann, in edler Einfalt und stiller Größe sozusagen, wie zum Triumph seinen kompletten Hautsack wie einen Mantel hoch; ein „Raucher“ mit gespitzten Lippen und vorgestrecktem Zeige- und Mittelfinger präsentiert mahnend seine inzwischen berühmt gewordene geschwärzte Lunge. 20 Zigaretten täglich, kann man lesen, ergeben aufs Jahr eine Kaffeetasse Teer, die sich irgendwie und -wo in der Lunge verteilen. Das wird bestimmt nicht jeder Besucher wissen wollen, viele sollen ja nach der Ausstellung das Rauchen aufgeben. Oder es zumindest aufgeben wollen. Eine Frau empört sich über einen Gegenstand, ein Buch, den eines der Plastinate in den Händen hält, das sei nun aber wirklich geschmacklos. Ihr Freund weiß nicht so recht, was er sagen soll; ich wüsste es auch nicht. Grotesk der „Radfahrer“, der auf seinem Riesenrennrad sitzend in zig Teile zerlegt und dann komplett um das Anderthalbfache „expandiert“ wurde, mit Hilfe diverser Zwischenstücke und Streben: Wie ein aufgeblasener Riese sieht er aus oder wie jemand, der gerade dabei war zu explodieren, als jemand die Zeit angehalten hat. Ihm ins aufgeblähte „Gesicht“ zu sehen, mit dem davonfliegenden grinsenden Gebiss, den Glotzaugen und dem lächerlichen Haarteil, ist schwer erträglich. Kein Wunder, dass sich hier keiner länger aufhält. Anderes sieht, sei’s gewollt, sei’s ungewollt, auch komisch aus: Der „Organpräsentator“ wurde gehälftet, dann Muskeln und Skelett jeweils nach links und rechts geschoben, sodass in der Mitte sämtliche Innereien frei hängen. Mir fällt eine Szene aus einem Science-Fiction-Film ein, in der ein Körper von Innen auseinandergedrückt wird und der sich in der Körpermaske versteckende Kampfroboter zum Vorschein kommt. Eine Frau fragt ihren Mann, warum denn bei diesem die Nieren soweit unten baumeln. Ihr Mann brummt nur etwas Unverständliches, ich kämpfe um einen unbeteiligten Gesichtsausdruck. Endlich entdeckt die Frau die wirklichen Nieren an ihrem angestammten Platz und geht schnell weiter. Inzwischen habe ich den Eindruck, dass die Besucher vom Anblick all der in ihre Bestandteile zerlegten Toten in Stimmung kommen. Einige zumindest. Zwei vielleicht acht- oder zehnjährige Buben rennen johlend von Plastinat zu Plastinat, amüsieren sich prächtig über die unterschiedlichen Schniedellängen. Medizinstudenten raunen sich begeistert lateinische Worte zu; andere, Ärzte vermutlich, erklären ihren Angehörigen den Aufbau des menschlichen Körpers, können ihnen endlich einmal ihren Beruf näher bringen. Animiert ist offenbar auch der Typ, der seiner Liebsten, die sich’s wohlig gefallen lässt, verliebt am Hintern rumfummelt. Nun ja, jeder wie er’s mag. Ein Junge, kaum älter als vier, sitzt mit aufgerissenen Augen und verdächtig starrer Miene seinem Papa auf der Schulter, wird von ihm von Plastinat zu Plastinat getragen, sagt und fragt nichts und bekommt trotzdem erklärt, warum der gehäutete „Lehrer“ eine Kreide in der Hand halten muss. Dafür, dass sich die Gesellschaft noch vor wenigen Jahrzehnten einig war, der Anblick eines noch so hübschen nackten Busens könnte Kinder für ihr Leben schädigen, sind wir inzwischen doch recht weit gekommen, denke ich. Fragt sich nur, wohin. Die Frage, wie Kinder mit derartigen Anblicken umgehen, beschäftigt mich noch eine Zeitlang, psychologisch ein interessantes Problem. Und worin könnte der von Eltern und Ausstellungsmachern erhoffte positive Effekt bestehen? Immerhin werden Eltern ausdrücklich animiert, ihre Kinder mitzunehmen, im Glauben an die kindliche Neugier und an ein noch unverkrampftes Verhältnis zu Körperlichkeit und Tod, das es zu fördern gilt. Ingesamt ist das Publikum vorwiegend jüngeren Alters, zwischen 20 und 40, viele Pärchen oder Ehepaare darunter; wirklich alte Menschen sieht man nicht, was auch zu denken gibt. Männer und Frauen halten sich anteilsmäßig wohl die Waage, Schulklassen werden natürlich auch durchgeschleust, wir sind ja so cool. Eine Pubertierende erklärt ihrer Freundin beim Anblick eines zehn Wochen alten Embryos: „Und wegen so einem Klumpen machen die so ein Gescheiß, wenn man’s abtreiben lässt.“ Ich beuge mich vor und gehe die Reihe der reagenzgläserartigen Gefäße durch, die die einzelnen Entwicklungsstadien präsentiert, von der ersten bis zur zehnten Woche: In der Mitte sieht das kaum fingernagelgroße Ding aus wie ein Kaulquappe, in der zehnten kann man das Rückgrat sehen, die Extremitäten, das Köpfchen. Dass man selbst mal sowas gewesen sein soll, unvorstellbar Ein abgetrennter Bereich ist den „Hartgesottenen“ vorbehalten, am Eingang locken Schilder damit, dass die hinter der Abschirmung zu sehenden Exponate Gefühle verletzen könnten. Oha. Interessiert reihe ich mich mit allen anderen ein und höre, wie hinter mir ein Mann ins Philosophieren gerät: „Eigentlich“, sagt er zu seiner Frau oder Freundin, „ist der Mensch doch pervers.“ Sie: „Wie meinst’n das?“ „Na, dass er immer alles so ganz genau wissen will. Dass er die Natur nicht in Ruhe lassen kann, alles aufschneiden und überall hineingucken muss.“ „Ach so.“ Dann geht’s endlich voran, und die Launen jener vom Menschen traktierten Natur sind zu sehen: Wasserköpfe, Froschgesichter, Siamesische Zwillinge, zum Erbarmen. Eine Schwangere mit geöffnetem Mutterleib und einem wie schlafenden Baby darin, jetzt hat man also auch das mal gesehen. Den Arm hat sie fast schon lasziv hinter den Kopf gelegt, unaufgeschnitten und ungehäutet wäre das zweifellos eine erotische Pose. Draußen weitere Plastinate: Pferd und Reiter sind mit goldfarbener Alufolie umhüllt, auf Anweisung des bayerischen Verwaltungsgerichts, das bei diesem Objekt keinerlei didaktischen Nutzen erkennen konnte und daher die Totenwürde gewahrt sehen will. Mehr ist von der ursprünglichen Androhung des Stadtrats, die Plastinate im Falle einer Ausstellung in München zwangszubestatten, nicht übrig geblieben. Ein Exponat weiter beweist von Hagens Humor. Der „Flügelmann“, der mit gespreizten Armen dasteht und sich auf seinem motorgetriebenen Podest unaufhörlich dreht, die Rückenpartien aufgetrennt und wie Fledermausflügel nach vorne auf Armeshöhe geklappt, hat von Hagens Hut auf dem Kopf. Eine Tafel klärt auf, warum: Der Hut soll eine symbolische Verbindung von Leben und Tod darstellen; auch soll die lebende Pose verhindern, das ein Gruseleffekt erzeugt werde: da Gruseln Lernen verhindere, aber ästhetische Lust dem Lernen förderlich sei. Schade, aufs Gruseln habe ich mich ja gefreut. Das bekomme ich dann aber doch noch serviert, ganz unverhofft: Einem in mehrere Scheiben zerschnittenen Mann hat man ausnahmsweise die Haut noch drangelassen. Der in drei Teile zerlegte Oberarm zeigt eine Tätowierung. Aus welchem Anlass hat der Mann sie sich machen lassen? Ich versuche die Fragmente der blauen Linien auf der gelblichweißen Haut zusammenzusetzen, kann das verschlungene Motiv aber nicht erkennen. Was für ein Leben mag er gehabt haben? Was für einen Tod? Darüber wüsste ich jetzt gern mehr, würde am liebsten die wie Schweinehälften aufgehängten Scheiben wieder zusammenschieben. Auf dem Rückweg ist im Olympiastadion gerade die Halbzeitpause vorüber, die Fans, die hinter der Absperrung noch wie tot in der Wiese liegen, scheinen so erschöpft zu sein wie ich. Es steht 1:0, schnappe ich auf, für wen auch immer. Die „Körperwelten“-Ausstellung
ist noch bis zum 17.8.03 in München (Olympiapark Arena), täglich
von 9 bis 22 Uhr, zu sehen. Infos unter www.koerperwelten.com. |
Verfasser: Oliver Pfohlmann |
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