Bernd Scheffer

Medien und Gewalt
Wie sollen sich Eltern und Schüler verhalten?



Abstract: Beim Thema "Medien und Gewalt" geht es im folgenden Aufsatz um übersichtliche Erklärungen und um sechs praktische Empfehlungen. Nicht alles, was man zu "Medien und Gewalt" rechnen kann, ist gleichermaßen schädlich. "Tom und Jerry" ist durchaus ganz anders einzuschätzen als etwa das seit dem Erfurter Anschlag berüchtigte Computerspiel "Counterstrike".


Bekanntlich gibt es nicht nur eine Riesenzahl von Studien zum Thema "Medien und Gewalt", die niemand in allen Einzelheiten noch übersehen kann, sondern es gibt darüber hinaus auch extrem unterschiedliche Ansichten. Da gibt es die großartigen Entwarner, die da sagen: "Die Gewalt in den Medien macht wenig oder gar nichts!" Und diese Entwarner haben freilich ihre wissenschaftlichen Studien und ihre empirischen Belege und freilich auch ihre Argumente, ihre zum Teil durchaus guten Argumente. Und auf der anderen Seite gibt es die großartigen Warner, die da sagen: "Die Medien, insbesondere die Gewaltdarbietungen ruinieren unsere Kinder, unser soziales Leben, unsere Gesellschaft, unser Land, ja die ganze Welt!" Und auch diese Warner haben natürlich ihre wissenschaftlichen Studien und ihre Belege und ihre zum Teil wirklich guten Argumente.

Helmut Thoma, der RTL-Chef zum Beispiel, ist zwar kein Wissenschaftler, aber doch einer der extremsten Ent-Warner, ein Zyniker, für den die Medien an überhaupt nichts schuld sind. Thoma macht immer nur allein soziale, häusliche Umstände für Probleme verantwortlich. Thoma sagte einmal, angesprochen auf sein mieses Programm: "Der Wurm muß dem Fisch schmecken, nicht dem Angler!" – Und auf der anderen Seite gibt es in der Wissenschaft extreme Warner, gibt es Leute wie den pensionierten Augsburger Professor Werner Glogauer, gibt es gewissermaßen fleisch-gewordenen Medienfeindlichkeiten, die mit einem unglaublich großen moralischen Zeigefinger durch die Gegend laufen und es immer schon gewußt haben, dass die Medien, vor allem die Gewaltdarbietungen in den Medien unser aller Unglück sind. Sie fordern umfassende Verbote und flächendeckende Beschränkungen, sie fordern nachhaltig Zensur. Sie versuchen das Problem dadurch zu lösen, dass sie die Medien-Zugänge zu den Kinder- und Jugendzimmern vermauern.

Aber es ist ja nicht nur ein Unglück, dass es die Medien gibt, das ist zuweilen ganz sicher so, aber man kann eben auch häufig im Gegenteil sagen: Zum Glück gibt es die Medien, und fast möchte man sogar noch sagen: Zum Glück gibt es gewisse Gewaltdarstellungen in den Medien, zum Glück gibt es so etwas "Tom und Jerry" oder "Oggy und die Kakerlaken", um nur zwei besondere Beispiele von "Gewalt in den Medien" zu nennen. Jedenfalls spricht einiges dafür, dass Kinder manchmal auch die Möglichkeit haben sollten, gewisse, begrenzte Widerstands-Phantasien gegen die übermächtige Erwachsenen-Welt zu entwickeln – natürlich nur diese spielerischen, witzigen und durch den Zeichentrick-Charakter allemal viel harmloseren Gewaltdarstellungen als in vielen schlimmen Märchen der Brüder Grimm, zum Beispiel. Erinnern wir uns nur an die zahlreichen unerträglichen Grausamkeiten in Hänsel und Gretel, bevor dann am Schluß einiges, aber auch nicht alles "wieder gut" wird.

Gewalt in den Medien ist also – das zeigen "Tom und Jerry" oder "Oggy und die Kakerlaken" – durchaus nicht immer gleich: Es gibt äußerst starke Unterschiede – etwa zwischen den harmlos, witzigen, an Asterix und Obelix erinnernden Schlägereien von Bud Spencer und Terence Hill, die möglicherweise kindliche Aggressionen tatsächlich abbauen können und eben nicht aufbauen – und andererseits und im Unterschied dazu gibt es die extremen, sich völlig ernst und vorbildlich gebenden Gewaltdarbietungen andererseits. Nicht alles, was man als "Gewalt in den Medien" bezeichnen kann, ist also gleichermaßen schlimm und schädlich. Selbstverständlich gibt es unzählige Gewaltdarstellungen und vor allem Gewaltverherrlichungen in Filmen und Computerspielen und auch in der Rock-Musik, die vollkommen verwerflich sind, die verboten sein sollten. Doch wenn Eltern nur ein wenig aufpassen, erreichen diese Medienprodukte aber die Schülerinnen und Schüler nicht vor dem 13. oder 14. Lebensjahr.

Sehr problematisch sind für Kinder vor dem Teenager-Alter übrigens die Nachrichten-Sendungen, etwa "Heute" oder "Tagesschau". Da wird inzwischen durchaus härteste Gewalt gezeigt. Und dabei kann man den Kindern ja wirklich nicht mehr tröstlich sagen: "Du, das ist ja alles nur Film, die tun nur so als ob, das ist nicht ernst gemeint, das sind Filmtricks und Schauspieler, und das Blut ist in Wahrheit nur Ketchup!" Sorge gilt dabei weniger der Kindererziehung, weniger der individuellen Mediennutzung, eher bieten die gesellschaftliche und politische Entwicklungen Anlaß zu größter Sorge; Da gibt es fatale Medieneinflüsse, z.B. ein Zusammenspiel zwischen Hollywood-Filmen und Realpolitik bzw. realem Terrorismus (siehe hier in den "Medienobservationen" unter der Rubrik "Film": Bernd Scheffer: Das Zusammenspiel von Fiktion und Realität – Der 11. September und die USA als Teil Hollywoods).

Wer hat Recht? Glogauer oder Thoma? Weder noch! Denn es hat keinen Sinn, das Problem an einem der beiden extremen Punkte von absoluter Warnung und absoluter Entwarnung lösen zu wollen. Man muß irgendwo dazwischen durch. Die Wahrheit liegt, hier jedenfalls, irgendwo in der Mitte zwischen Entwarnung und Warnung, also zwischen Thoma und Glogauer. Zwar hat keine Wissenschaftlergruppe derzeit die Macht, geschweige denn ein einzelner Wissenschaftler, in diesem äußerst ungeklärten Feld von "Medien und Gewalt" etwas abschließend klären zu können, aber man kann doch immerhin eine klare, eine brauchbare Schneise durch diesen Meinungs-Dschungel schlagen, man kann also tatsächlich Erklärungs-Modelle und medienpädagogische Empfehlungen anbieten.

Zunächst die Erklärungen: Was wir gerne hätten von anderen Menschen, insbesondere von unseren Kindern, von den Schülern, sind ja menschenfreundliche Verhaltensweisen, ist ja vor allem der Verzicht auf gewalttätige Verhaltensweisen. Woher kommen nun Verhaltensweisen ganz allgemein, also nicht nur die gewalttätigen? Wie entstehen Verhaltensweisen, worauf sind sie zurückzuführen? Aus Anlage und Umwelt, und wenn man sich dieses Woher der Verhaltensweisen klar macht, dann zeigt sich rasch, dass Medien unter allen Umständen immer nur ein Faktor unter vielen weiteren Einfluß-Faktoren im Feld der Umwelt-Einflüsse, also des Lernens (im weitesten Sinne) sein können. Aber auch ein Hinweis auf den Faktor Anlage ist insofern wichtig, als z. B. Mädchen und Frauen zwar nicht unbedingt die bessere Hälfte der Menschheit vertreten (auch sie haben ihre Gewaltphantasien, ihre Lust auf Gemeinheiten), aber sie haben vergleichsweise äußerst wenig Interesse an einer praktischen, tätlich werdenden Ausübung von Gewalt. Und das hängt sicher nicht allein damit zusammen, dass Mädchen stets besser erzogen wurden. Es gibt sogar – das haben wir in unserer Studie "Medienbiographie und Lebensentwurf" herausgefunden, einen ziemlich merkwürdiges Verhalten der Eltern: Sie überwachen den Medienkonsum der Mädchen mehr als den der Jungen, obwohl es – gegebenenfalls – eher umgekehrt sein müßte.

Man braucht hier jetzt aber gar keine, ohnehin nur schwer lösbare Diskussion über das Verhältnis von Anlage und Umwelt zu führen, deutlich ist in jedem Fall folgendes: Da Medieneinflüsse ja nicht auf der Seite der Anlagen, nicht bei den genetisch vorgegeben Tendenzen wirksam werden können, können sie immer nur mit anderen Umwelt-und Lern-Einflüssen zusammenspielen und mit ihnen konkurrieren. Und wenn man jetzt probeweise einmal annimmt (was ja einigermaßen hinkommen dürfte), daß nur 50% des Verhaltens auf Umwelt-Einflüsse, auf Lernen im weitesten Sinne zurückgehen und dass hierbei Familie, Bekannte und Freunde, Schule und sonstige "Life"-Erfahrungen im Normalfall ganz sicher keine geringere Rolle spielen als die jeweiligen Medienerfahrungen, dann bleiben für Medieneinflüsse nach dieser Grob-Rechnung allenfalls noch 10% – und wenn man dann diese Mediennutzung auch noch nach einzelnen Medienformen und Mediengattungen abstuft, also eine mehr oder weniger gleichmäßige Nutzung von Bücher, Filmen, Computerspielen, Hörkassetten etc. veranschlagt und diese dann sogar noch auf verschiedene Gattungen verteilt, unter denen die Gewaltdarstellung ja nur eine von vielen Gattungen ist, dann kommt dem Faktor "Gewaltdarbietungen in den Medien" noch nicht einmal 1% zu. Man könnte diesen 1%-Faktor, jedenfalls statistisch, fast vernachlässigen und sagen, ein gefährliches Interesse für Gewalt in den Medien und ein Hang zur tatsächlichen Gewaltausübung muß auf andere und vor allem auf stärkere Einflüsse zurückgehen als auf den Konsum von Gewalt in den Medien.

Es geht, wie schon gesagt, ja nicht um die pauschale Entwarnung, aber zunächst soll doch auch einmal gezeigt werden, dass Medien bei einer halbwegs normalen Entwicklung des Kindes immer nur ein Lehr- und Lern-Faktor unter vielen anderen sein können. Anders gesagt: Wenn die Familie, wenn Freunde und Bekannte, wenn die Schule stark auf ihren Einfluß verzichten, wenn sie sich nicht kümmern oder wenn sie bei einem Kind nicht mehr zum Zuge kommen, dann freilich driftet der Medienkonsum in dieses Vakuum, in die nicht genutzten Spielräume. Wenn das normale Lernen schwach wird, wird das Lernen durch problematische Medien stärker. Dann kann es gefährlich werden, aber nicht allein deswegen, weil die Medien zuweilen äußerst Schlimmes bieten (völlig unbestritten), sondern vor allem deshalb, weil sich schlimme Versäumnissee im sozialen Feld bereits ereignet haben. Der wichtigste medienpädagogische Vorschlag hat also mit Medien zunächst direkt gar nichts zu tun: Die wichtigste Barriere gegen Gewalt in den Medien besteht drin, zunächst außerhalb der Mediennutzung für die soziale und emotionale Situation des Kindes Sorge zu tragen. Packen wir Kinder nicht in Watte, aber nehmen wir anderseits auch nicht rücksichtslos an, alles was Kinder nicht unmittelbar umwirft, mache sie nur umso stärker. Häufig verkaufen Eltern eigene Erziehungs-Versäumnisse und eigenen Übermut, der die Familie ohne Zweifel übermäßig und nachhaltig belastet, als tollen Beitrag zur Reifung ihrer Kinder.

Medien sind mächtig und ohnmächtig zugleich. Mit Hilfe eines vereinfachenden Modells läßt sich die Macht, aber auch die Ohnmacht der Medien gleichermaßen begründen. Wir setzen 2 Ebenen an: Die erste nennen wir "Unten", nennen wir Alltagsrealität, nennen wir "Hier und Jetzt". Diese Alltagsrealität ist auch die Ebene, auf der sich das tatsächlich wirksame, unmittelbar beobachtbare Verhalten der Kinder und Jugendlichen abspielt: Es ist die relativ feste Ebene, es sind "die beiden Beine auf der Erde". – Davon unterschieden gibt es eine zweite Ebene, gibt es das "Oben", die Welt der Selbstbeobachtungen, der Selbstentwürfe, der Phantasien und Träume, gibt es die wolkige Ebene, die Luftschlösser. – Und zwischen diesen Ebenen bestehen im Normalfall durchaus starke Isolierschichten, Immunisierungspuffer. Es gibt zwar immer auch Austausch (unvermeidlich gibt es Austausch), aber dieser Austausch zwischen "Unten" und "oben" ist im Normalfall sehr indirekt, sehr gedämpft, sehr komplex, sehr voraussetzungsvoll, jedenfalls ziemlich ungefährlich im Hinblick auf reale Taten und Tätlichkeiten.

"Unten" ist die Macht der Medien schwach (Gottseidank), und "Oben" ist die Macht der Medien sehr stark (und auch dazu kann man oft genug auch sagen: "Gottseidank!", keineswegs nur "Leidergottes!"). Nehmen wir ein Beispiel, das diese Macht und zugleich Ohnmacht der Medien veranschaulicht, jetzt zunächst außerhalb der Gewaltbeispiele: Auf das, was sich bei einem jungen Mädchen, bei einem Teenager "Oben" tut hinsichtlich der eigenen Vorstellungen von Liebe und Freundschaft, haben Fernsehserien wie "Gute Zeiten, schlechte Zeiten", "Marienhof", "Verbotene Liebe", hat die "Bravo"-Lektüre einen kaum zu überschätzenden Einfluß. Hier sind die Medien mächtig, durchaus. Die Mädchen sind gierig danach und das ist im Prinzip auch durchaus akzeptabel. – Und doch hat sich immer wieder (etwa in unserer Studie "Medienbiographie und Lebensentwurf") gezeigt, dass das tatsächliche Liebes- und Freundschaftsverhaltenverhalten eines Mädchens hauptsächlich von seinem Wesen, von seiner Art, von seinem "Unten" bestimmt wird: Die Traumspiele werden hier eben nicht direkt wirksam. Eine Frau, die für einen Popstar oder für einen Außenminister schwärmt, wählt deswegen noch lange keinen Real-Partner, der den Stars wenigstens ein wenig ähnlich ist. Träume sind zunächst einmal eine Sache und die reale Lebenspraxis ist eine andere.

Das gilt – mit bestimmten Einschränkungen – auch für Kinder und Jugendliche. Dass ein Junge zusammen mit Old Shatterhand und Winnetou imaginär und nicht ohne gewisse Begeisterung bestimmte Feinde tötet, heißt auch bei einem Kind gerade nicht, dass dies irgendeine nennenswerte Folge für seine Lebenspraxis hat. Wäre es anders, müssten auch die Deutschlehrer und Deutschlehrinnen anläßlich der ausgewählten Schullektüre wegen hundertfacher Anstiftung zur Gewalt strafrechtlich belangt werden. – Die Lektüre von Goethes "Werther" in der Oberstufe macht keine Selbstmörder, selbst dann nicht, wenn man Werthers bedingungsloser Liebe im Unterricht sehr positive Seiten abgewinnt.

Nach Anschlägen wie in Erfurt wird mehr oder weniger planmäßig ignoriert, daß Millionen anderer Menschen die gleichen Filme und Fernsehproduktionen gesehen haben und die gleichen Computerspiele gespielt haben und dennoch nicht zu Massenmördern geworden sind. Mithin läßt sich aus der Art der einzelnen Medienproduktion, aus dem einzelnen Buch, aus dem einzelnen Film und noch nicht einmal aus einer stattlichen privaten Sammlung von bestimmten Filmen keine bestimmte Reaktion, geschweige denn ein mörderisches Real-Zitat ableiten (und noch weniger läßt sich dies – präventiv – vorhersagen). Hunderttausende werden trotz vergleichbarer Mediennutzung nicht zu Massenmördern. Genau aus diesem Grund müssen Richter immer wieder – und gewissermaßen auch zu Recht – die Produzenten und Regisseure buchstäblich eingeschlägig gewordener Filme von der Anklage einer Beihilfe zum Mord freisprechen – wenn wieder einmal "Natural Born Killers" real gemordet haben; es heißt, mindestens 10 verschiedene Fälle seien weltweit dokumentiert.

Natürlich muß man sich weiter fragen, ob es diesen oder jenen Anschlag so massiv überhaupt gegeben hätte, wenn nicht bestimmte Filme und Computerspiele exzessiv genutzt worden wären. Jedenfalls propagieren unzählige Hollywood-Filme seit langem den Einmann-Terrorismus, die Selbst- und Lynchjustiz. Deren Darsteller sind allesamt in bestimmten Kreisen zu Kult-Figuren geworden: Charles Bronson, Clint Eastwood, Silvester Stallone, Robert de Niro, Arnold Schwarzenegger, Bruce Willis, Brad Pitt und viele andere. – In den Katastrophen-Filmen kommt die große Reinigung einer verdorbenen Welt, kommt die Läuterung durch Gewalt, Feuer und Tod. In diesen Filmen ist jegliche Zerstörung legitim, sie bekommt Sinn, weil am Ende des Films die Lage "klarer" ist als zuvor. Man weiß dann, wer für uns ist und wer gegen uns ist. Die "Säuberung" wird im wörtlichsten Sinne als "Säuberung" inszeniert. Im Zuge brutalster Selektion wird in einer Massenvernichtung die menschliche "Spreu vom Weizen" getrennt. Freilich, es sind Filme, das macht allemal noch Unterschiede, aber welche genau? "Fight Club" etwa, ein Kult-Film, bietet Selbstzertsörung als Attraktionen an; ganz explizit heißt es: "Nur wenn wir alles verloren haben, haben wir die Freiheit, alles zu tun!" Zwar gibt es in nicht wenigen Filmen auch eine deutliche, sogar heftige Kritik an den Gewaltphantasien Hollywoods, die Rechnung geht aber inzwischen eher zu Gunsten der Bösen auf. Selbst die Frauen spielen inzwischen – deutlicher als zuvor – viel eher auf der Seite der Bösen mit. Und dennoch meinen wir, im Gegensatz zu vielen Stimmen, die etwa nach den Morden in Erfurt zu hören waren, dass das einfache Ursachen-Wirkungs-Modell, zumal auf der Ebene von Einzelereignissen und individuellen Taten, in keinem Fall weiter führt.

Als Mittel gegen Gewalt-Anwendung lässt sich auch die bei jüngeren Leuten verbreitete, durchaus medial bedingte "Coolness" nennen, die bei allen Nachteilen (die natürlich auch ich sehe) durchaus auch ihre Vorteile hat: "Coolness" ist nicht auf Gewalt aus. Diese Coolness, dieser spezifische Anti-Fundamentalismus, diese grundsätzliche Flexibilisierung von Realität, dieses ironische Verhältnis zu Realitäten ist ein Medien-Resultat, das bei Vielsehern, jedenfalls in reichen Ländern, zu beobachten ist – kompetente Vielseher, die dieses, aber eben auch anderes, Gegenteiliges, Relativierendes gesehen haben: Bedauerlich "cool" zwar, aber gottlob auch weder fundamental "militant", noch fundamental "militär". Die Coolen haben hoffentlich etwas (außer immer nur Spaß und das Geld dafür), wofür es sich zu leben lohnt, aber wir sollten ihnen dankbar sein, daß sie nichts haben, wofür sie eilfertig sterben oder töten wollten. Sie sind gewissermaßen das Gegenteil von Selbstmord-Attentätern und möglicherweise nicht die schlechteste Antwort auf sie. Anders gesagt: Gewalttäter unterscheiden nicht richtig zwischen Fiktion und Realität, sie haben aber dabei nicht nur das Problem, dass sie Fiktionen gewaltsam in Realitäten umsetzen, sondern sie haben vor allem auch das Problem, dass sie ihre eigene Realität nicht ausreichend fiktionalisieren können oder wollen. Sie härten vermeintliche Realität fundamentalistisch und verzichten damit auf ihre Flexibilisierung.

So gesehen hat das viel beklagte Zusammenspiel von Oben und Unten, von Fiktion und Realitäten hat eben nicht nur Nachteile: Einzig die prinzipielle, auch produktive Verwechselbarkeit von jeweiliger Realität und jeweiliger Fiktion liefert die entscheidenden Impulse für kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Das Leben folgt nun einmal auch den Fiktionen. Nicht allein die Kunst ahmt das Leben nach, sondern vor allem auch das Leben die Kunst. Es wäre sinnlos, gegen Fiktionalisierungen bzw. ihre gewaltorientierten Steigerungen ganz allgemein vorgehen zu wollen. Selbstverständlich wäre das ein Denk-Verbot, ein Gefühls- und Gedanken-Terrorismus, denn schließlich fiktionalisiert ja auch jedes Planen, jedes Probehandeln, vor allem jedes Wünschen, Tagträumen und Träumen.

Deutlich Warnungen sind angebracht unter ganz bestimmten Bedingungen: Normalerweise ändern Medien am Verhalten einer Person nicht sehr viel, weil normalerweise ja andere, stärkere Lern-Einflüsse da sind. Normalerweise herrscht zwischen "Oben" und "Unten" ein ausreichendes Gleichgewicht; normalerweise sind auch die Verteilungen "Unten" und "Oben", also in der Alltagsrealität einerseits und in den Selbstentwürfen und Träumen andererseits ausreichend im Gleichgewicht; normalerweise sind daher auch die Isolierschichten zwischen "Oben" und "unten" ausreichend stark. Normalerweise destablisiert also der Austausch zwischen "Oben" und "Unten" nicht bedrohlich das Gesamt-System. Entwicklungen – in welchen Bereichen auch immer kann es ja nur geben, wenn es diesen Austausch zwischen "Oben" und "Unten" gibt, und diesen Austausch wiederum gibt es nur, wenn "Oben" und "Unten" flexibel sind, wenn sie sich mindestens ein wenig destabilisieren lassen.

Wann aber kommt es zu Destabilisierungen, die nicht mehr willkommen sind, die zu stark sind, die ohne Frage schädlich sind? Eine schädliche Destabilisierung geschieht in folgenden Fällen: Je jünger die Kinder sind, desto instabiler sind "Unten" und "Oben" und desto dünner ist die Isolierschicht zwischen beiden. Daher gilt der Tendenz nach: Je jünger, desto gefährlicher. Natürlich ist auch die Pubertät eine heikle Phase. Normalerweise reicht aber immer der Schutz aus, den halbwegs aufmerksame Eltern oder auch der staatliche Jugendschutz geben. Und zu tatsächlich schädlicher Destabilisierung kommt es, wenn das "Unten", wenn die Alltagsrealität so schlimm wird, so zusammengestaucht wird, dass das "Oben" nun im Gegenzug zum Ausgleich wuchert; bzw. umgekehrt, wenn das Träumen, wenn der Medienkonsum quantitativ und qualitativ so Überhand nehmen, dass im Gegenzug für das "Unten", für die Bewältigung der Alltagsrealität keine ausreichende Energie mehr bleibt. Nebenbei gesagt: Natürlich spielt sich der praktische Medien-Gebrauch nicht "Oben", sondern "Unten" ab und selbstverständlich spielen Medien hier eine immer stärkere Rolle im Alltagsleben, aber dennoch betreffen die Persönlichkeits-Veränderungen, die hier in diesem Aufsatz über "Medien und Gewalt" relevant sind, zunächst das "Oben", die Träume, die Subjektbildungen, die dann zum Teil massiv nach "Unten" durchschlagen.

Selbstverständlich brauchen wir die Kinder- und Jugendschutz-Maßnahmen, die wir haben, auch weiterhin: Also Altersbeschränkungen, Empfehlungen, auch Verbote. Und doch ist es nicht damit getan, das Problem "Medien und Gewalt" auf der Ebene der Medienproduktionen und ihrer Kontrolle lösen zu wollen. Infektions-Gefahren lassen sich zwar durch Hygiene einschränken, aber wichtiger erscheint die Stärkung der Abwehrkräfte. Nicht selten erzeugt übermäßige Hygiene erst die Krankheit, die ohne diese überzogene Hygiene gar nicht aufgetreten wäre. Zuweilen machen Verbote erst richtig scharf auf das Verbotene. Also eher Selbstkontrolle als Fremdkontrolle; also Stärkung der Abwehrkräfte. Es ist ein Skandal, dass es kein Schulfach "Medienkunde" gibt; wenigstens eine Stunde, bitte, zur weiteren Verstärkung der Isolierschichten; alle anderen Fächer werden dafür um 7 Minuten verkürzt.

Veranschaulichen lassen sich die 6 praktische Empfehlungen zur Mediennutzung am einfachsten in den Bildern einer guten Ernährung:

  1. Eltern essen vorbildlich: Wenn Mutter und Vater selber pausenlos glotzen und dabei Gewaltfilme bevorzugen, sind sie mit ihren Aufforderungen, Kinder sollten mal was anderes machen als vor dem Bildschirm zu hocken und "so einen Mist" zu sehen, schlicht unglaubwürdig.
  2. Mahlzeiten werden verabredet und es gibt Pausen zwischen den Medien-Mahlzeiten. Daher eher kein eigener Fernseher für die Kinder, allenfalls irgendwo noch ein Zweitgerät, wenn man sich denn wirklich einmal nicht einigen kann zwischen Fußball und Kinderprogramm.

  3. Das Medienfutter wird den Schülerinnen und Schülern nicht gänzlich verweigert, andernfalls könnte es Mangel- oder Sucht-Erscheinungen geben und soziale Isolierung ("Die oder der kennt sich ja überhaupt nirgendwo aus!").

  4. Das Medienfutter erfolgt altersgemäß und ausgewählt: Manche Medienkost ist für jüngere Kinder schlicht unverdaulich. Keine zu scharfe Kost (welcher Art auch immer), auch nicht für Teenager. Und auch ältere Geschwister bestimmen nicht, was die jüngeren notgedrungen zu konsumieren haben.

  5. Abwechlungsreiche Kost ist nötig: Einseitige Ernährung nur mit Medien-Pommes und Medien-Macs schadet auf Dauer.

  6. Reden wir so viel wie irgend möglich miteinander über die Art des Essens (tun wir also etwas, was wir keiner Köchin oder keinem Koch in dieser Weise antun wollten). Reden Sie anläßlich von konkreten Beispielen über Gewalt in Medien und in der Welt. Spielen Sie so ein Ballerspiel mal mit Ihrem Kind. Das ist sicher besser als im eigenen Haus tyrannische Verbote und Strafen zu diktieren. Also eher kompromiß-ähnliche Verabredungen. Hören Sie auch den Wünschen der Kinder zu, lassen Sie sich Begründungen für die Medieninteressen der Kinder geben – und geben Sie diesen Begründungen auch eine Chance. Reden Sie nicht nervig, sondern nach Möglichkeit aufgeschlossen. Erinnern Sie sich ohne Verklärung an ihre Kindheit, an ihre "Gewalt in den Medien"!



Prof. Dr. Bernd Scheffer lehrt Literatur- und Medienwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Auch als Diplom-Psychologe und Psychotherapeut hat er gearbeitet. Er ist Vater eines elfjährigen Sohnes.



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