Kerstin Welter


Das Unfassbare erfassen

Künstlerisch-literarische Aufarbeitungsversuche zum 11. September


Fünf Jahre nach den Anschlägen vom 11. September 2001 überwiegen in der öffentlichen Auseinandersetzung noch immer Unsicherheiten und Spekulationen. Auch in Musik, Literatur und Film ist der Prozess der Verarbeitung noch lange nicht abgeschlossen. Ist doch gerade auf der künstlerisch-kulturellen Ebene der Bedarf an Aufarbeitung eines epochalen Ereignisses umso höher, je größer, je gewaltiger und brutaler dieses Ereignis in unseren Alltag einbricht. Die Anschläge waren ein Ereignis, das unser Fassungsvermögen sprengte und die herkömmlichen Größenordnungen von Realität und Fiktion durcheinander brachte.

Gerade weil die (Medien-)Bilder, die uns seit den ersten Tagen permanent begleiteten, noch immer präsent und jederzeit abrufbar sind, kann es nur schwer fallen, andere Bilder dagegen zu setzen – sei es in Form von Skulpturen, von Musikvideos, von Filmen oder von Phantasiebildern in der Literatur. Im Folgenden möchte ich zunächst anhand von künstlerischen Verarbeitungen im Film beispielhaft skizzieren, wie sich ein Teil der ‚bildhaften’ Auseinandersetzung mit dem 11. September 2001 entwickelt hat, bevor ich auf Verarbeitungen in Texten, auf Motive und Möglichkeiten literarischer Prosa in diesem Zusammenhang näher eingehe.

Über die Dauer von fünf Jahren hat sich keines der großen Hollywood-Studios an den 11. September herangewagt. Nach der aktuellen Berichterstattung mit Live-Reportagen und Hintergrundberichten folgten zunächst einige längere Fernseh-Dokumentationen. Als Beispiel sei die filmische Begleitung eines jungen Feuerwehrmannes in der Produktion 11. September – die letzten Stunden im World Trade Center der französischen Dokumentarfilmer Jules und Gedeon Naudet genannt. Sie hatten ihre Dokumentation bereits vor dem 11. September begonnen, und weil es um die Feuerwache am World Trade Center ging, gerieten die Filmemacher selbst mitten hinein ins Geschehen – und auch in die brennenden Türme. Obwohl es sich um eine Real-Dokumentation handelt, lassen sich klar narrative Elemente erkennen. Die Handlung folgt dem Initiationserlebnis eines jungen Feuerwehrmannes, der sein Leben für andere riskiert und der damit zum Mann und auch zum Helden wird.

Auch die fiktionale Aufarbeitung in dem Drama The Guys von Jim Simpson folgt gängigen Erzählmustern. Der Film von 2002 zeigt die Traumaverarbeitung eines Feuerwehrmannes, der mit Hilfe einer Psychologin eine Trauerrede für seine im WTC umgekommenen Kollegen halten soll. Kein großes Hollywood-Studio produzierte diesen Film, sondern eine kleine, unabhängige Produktionsfirma. Die Zurückhaltung Hollywoods im Hinblick auf eine 09/11-Verfilmung lässt sich vor allem durch zwei Gründe erklären: Zum einen waren es vielleicht die oft gehörten und gelesenen Vorwürfe, die Filmindustrie habe den Attentätern eine Art von Vorbild geliefert. Schließlich war New York schon vor dem 11. September beliebter Schauplatz apokalyptischer Endzeit-Szenarien und Attentatsvisionen mit explodierenden Hochhäusern. Auch aus Respekt vor den Opfern wurden aus bereits abgedrehten Filmen Szenen herausgeschnitten, die das WTC zeigten und zum Ort der Handlung machten. Der zweite Grund für die Zurückhaltung der Filmindustrie lässt sich darin erkennen, dass die Fiktion, mit der Hollywood für gewöhnlich die Vorstellungskraft des Publikums ausreizte, am 11. September 2001 plötzlich von der Realität überholt worden war: Das, was man sich auch in der filmischen Fiktion kaum vorstellen wollte, hatte sich nun ereignet.

Fünf Jahre nach den Anschlägen starteten jetzt zwei Filme, die 09/11 thematisieren. Zum einen ist dies Oliver Stones World Trade Center über die Rettung zweier Helfer aus den Trümmern der Zwillingstürme. Zum anderen ist es Flight 93 von Paul Greengrass – ein Film, der die Geschehnisse an Bord des vierten entführten Flugzeugs imaginiert. Diese Maschine stürzte in Pennsylvania ab, nachdem die Passagiere anscheinend versucht hatten, das Cockpit zu stürmen, um die Entführer an ihrem Vorhaben zu hindern. In beiden Filmen nehmen sich die Hollywood-Produzenten die Realität zum Vorbild, verweisen jedoch explizit auf den z.T. spekulativen Charakter ihrer Werke. Es scheint, als ob die Antwort auf die Frage nach dem filmischen Umgang mit dem 11. September für Hollywood in der Rückkehr zu gängigen epischen Mustern liegt: Es geht um Helden- und Märtyrertum, um Schicksal und Vorsehung, Verschwörung, Vergeltung und moralische Läuterung.

Die Verarbeitung des 11. September in Textform fand zunächst auf der publizistisch-journalistischen Ebene statt. Hierbei sind drei Richtungen identifizierbar: die dokumentarische, die konspirologische sowie die ideologie- und kulturkritische Betrachtung. Gemeinsam haben auch diese Aufarbeitungsversuche den Wunsch nach rationaler Durchdringung der Ereignisse, nach Erklärung, Deutung und Prognosen. „Der Schriftsteller will verstehen, was uns dieser Tag angetan hat. Ist es zu früh dafür?“ Diese Frage stellt sich Don de Lillo in einem Essay zum 11. September, der sich im übrigen in seinen Romanen mit Wirklichkeitswahrnehmung und philosophisch-psychologischen Aspekten von Terrorismus beschäftigt. De Lillo kommt zu dem Schluss, dass sich die Sprache nicht von der Welt trennen lässt, „die sie hervortreibt“. Auch wenn uns Katastrophen wie 09/11 sprachlos machen, so verlangen sie doch zugleich nach Artikulation. Schon in den ersten zwei bis drei Wochen nach den Anschlägen erschienen einige Textsammlungen und Anthologien wie „Gedanken im Sturm“ oder „Dienstag, 11. September 2001“ oder „110 Short Stories“, in denen bekannte und unbekannte amerikanische wie auch deutsche Autoren wie John Updike, Susan Sontag oder Ulrich Wickert ihre Gedanken zum 11. September veröffentlichten. Auch wenn diese Bücher aus zahlreichen unterschiedlichen Einzeltexten bestehen, die von einigen lyrischen Zeilen bis hin zu mehreren Seiten umfassenden kulturkritischen Essays reichen, so lässt sich in allen diesen Büchern ein gemeinsames Problembewusstsein erkennen.

Zunächst geht es um die Frage: Wie lässt sich begreifen, was da geschehen ist und wie lässt es sich in Worte fassen? Dahinter steht das Scheitern unserer Ratio am Unfassbaren. Immer wieder wird in den Textbeiträgen auf den Zusammenhang zwischen Sehen und Beschreiben, zwischen Begreifen und Artikulieren verwiesen. Die Autoren beklagen die Unzulänglichkeit des sprachlichen Ausdrucks für das, was sich da vor ihren Augen in New York abgespielt hat. Um das Geschehen einordnen zu können, greifen einige Schriftsteller auf cineastische Formeln zurück. John Updike beispielsweise erklärt in seinem Beitrag, er habe, auf dem Dach seines Hauses stehend und auf die Rauchschwaden aus dem WTC blickend, „eine Form von Intimität“ – im Sinne von Authentizität – verspürt, die sonst nur das Fernsehen schafft, und zwar „bei gutem Empfang“. Andere Autoren wie etwa Susan Sontag konstatieren ein „Übermaß an Wirklichkeit“, das auf uns einstürzte, und sie versuchen, dieses Übermaß durch eine detaillierte Beschreibung der eigenen Befindlichkeiten am Tag des Geschehens wett zu machen. Auch jeder Nicht-Literat wird wohl Zeit seines Lebens wissen, wo er am 11. September 2001 war und wie er zum ersten Mal von den Anschlägen erfahren hat.

Die zweite Frage, die sich in den Textsammlungen auftut, zielt auf die Hintergründe der Attentate. Nach der ersten Denk- und Sprachlähmung folgt die Suche nach den Ursachen und nach Schuldigen. Damit soll das ‚unbekannte Wesen’ Terrorismus einerseits ein Gesicht – z.B. das von Osama bin Laden – bekommen, andererseits wird auch nach der Schuld der USA gefragt. Die Autoren der entsprechenden Beiträge betten die Anschläge in ein logisches Ursache-Wirkungs-Gefüge ein: Westliche imperialistische Arroganz und die Demütigungen des Islam erzeugen eine Hassreaktion mit symbolischem Charakter. So ganz unvorhersehbar sei die Katastrophe gar nicht gewesen. Neben Beiträgen dieser Art wird in den Textsammlungen jedoch auch vor Generalisierungen gewarnt, wird die Frage der Schuld auch auf die Medienmaschinerie ausgedehnt, der Terrornachrichten und Terrorbilder nicht ganz ungelegen kamen.

In den verschiedenen Texten findet sich schließlich auch eine Frage wie diese: Welche Reaktionen sind zu erwarten und welche Konsequenzen hat 09/11 für die bisherige Weltordnung? Erkannt wird in den meisten Fällen eine Art Umbruchstimmung, befürchtet wird eine Kettenreaktion: Ein radikalisierter Islam erstarke weltweit, der Kampf der Kulturen rücke näher, die allerorts herrschende Unsicherheit gehe mit zunehmenden Freiheitsbeschränkungen einher. Einige Autoren appellieren allerdings auch an die ‚Menschlichkeit’ und treten für einen von sachlicher Kritik und Gegenkritik bestimmten Dialog ein. In allen literarischen Reaktionsweisen zeigt sich der Versuch, irgendwie irgendwo irgendeinen Sinn zu erkennen – bei aller Emotionalität und Leidenschaft der ersten Spontanreaktionen. Die Schilderungen der persönlichen Eindrücke der Autoren wirken eindringlich, sie erschüttern und wirken dadurch zugleich authentisch. Selbst ein satirischer Beitrag offenbart aber noch, wie auch die Literatur zunächst nur mit bekannten Schemata reagiert. Die Verwechslungsgeschichte von Oma Almhuber, die versehentlich als Omar Al Mhuba ins Visier der Schleierfahnder geraten ist, karikiert den blinden Aktionismus der Behörden.

Zu den zweifellos ‚besseren’ Texten gehört Kathrin Rögglas „really ground zero“. Die Schriftstellerin befand sich zur Zeit der Anschläge in New York und dokumentiert in einer „essayistischen Materialcollage“ (Ch. Jäger) ihre Eindrücke von den Reaktionen der Menschen auf der Straße, den Medienbildern und den politischen Reaktionen. Auch in Rögglas Text wird fragmentarische Wirklichkeitsbeschreibung durch Zustandsbeschreibung kompensiert: „ zunächst stand ich vor der frage, was ich damit mache, mit diesem haufen an authentizität, mit diesem scheinbaren aufgehen in einem ereignis, in diesem zu großen bild, in das man plötzlich wie eingezogen ist oder eingezogen wurde und in das man doch nicht passt, weil es eben zu groß ist.“ Wie ihre Kollegen in den Textsammlungen reflektiert auch Röggla das Auseinanderbrechen der gängigen Differenzierung von Fakten und Fiktionen bei dem, „ was man euphemistisch ‚geschehen’ nennen könnte und was doch weitaus zu groß zu sein scheint, um es irgendwie integrieren zu können in eine vorhandene erlebnisstruktur“. In ihrer tagebuchartigen Kapitelsammlung muss sich Röggla scheinbar selbst immer wieder in Erinnerung rufen, dass sie nicht nur geträumt hat. So beschreibt sie, wie die unzähligen Zettel mit den Bildern der vermissten Personen dabei helfen, die namenlose, existenzauslöschende Tragödie auf ein erträglicheres Maß zu bringen. In der schier übermächtigen Wirklichkeit, in dem „haufen an authentizität“ sucht Röggla sich zurechtzufinden, indem sie viele kleine Einzelszenen beschreibt und dabei auch einen „haufen an begriffsverschiebungen“ vornimmt. So spricht Röggla etwa von einem „schweigegerangel“ der Berater um Präsident Bush; angesichts des 11. September scheint es der Regierung zunächst opportun, sich vor allen Dingen durch bedeutungsvolles Schweigen in Szene zu setzen. Mit der Fragmentierung der Realitätswahrnehmung in ihren einzelnen Textteilen macht Röggla zugleich deutlich, dass es keinerlei auktorialen Überblick eines Schriftstellers über 09/11 mehr geben kann. Sie stellt ihr eigenes Autoren-Ich als Wahrnehmungsinstanz unter erkenntniskritische Beobachtung. Gerade weil Rögglas Buch zahlreiche essayistische Elemente und reportagehafte Passagen enthält, ist es künstlerisch besser gelungen als andere Versuche der Verarbeitung des 11. September. Röggla bemüht sich um Distanzierung und Differenzierungen und fragt danach, wie Literatur zu diesem Tag überhaupt aussehen kann bzw. soll.

Im Jahr 2003 publizierte der französische Schriftsteller Frédéric Beigbeder mit Windows on the World einen Roman, der sich ins Zentrum der Ereignisse wagt. Beigbeder setzt sich darin ebenso direkt mit den Opfern der Anschläge auseinander, wie etwa Jonathan Safran Foer in seinem 2005 erschienenen Roman Extrem laut und unglaublich nah. Der erste Autor, der den 11. September buchstäblich in einen Roman eindringen ließ, war allerdings Ulrich Peltzer. Die Attentate ereigneten sich, während Peltzer an seinem Roman Bryant Park arbeitete. Das 2003 veröffentlichte Buch war als literarische Fiktion geplant. Auf drei verschiedenen Erzählebenen verbindet Peltzer nun hochartifiziell die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seines Protagonisten Stefan: Dieser betreibt genealogische Forschung in New York. Seine Gedankenströme und Erinnerungen vermitteln dem Leser einen Eindruck vom Leben in dieser Stadt, während ein zweiter Erzählstrang von einem Drogendeal berichtet, an dem Stefan beteiligt ist. Der Deal nimmt seinen Anfang in Berlin und ‚platzt’ schließlich in Neapel. Eine dritte Erzählebene zeigt nurmehr fragmentarisch das Sterben eines Mannes aus der Perspektive seines am Krankenbett sitzenden Sohnes. Die Ebenen durchdringen einander, verzahnen sich oder laufen parallel. Damit deutet Peltzer bereits auf sein literarisches Ziel: die Hoffnung, ein Leben in der Kombination mit fiktionalen Anteilen wie Tagträumen oder Gedankensplittern literarisch zu erfassen. „D ie Geschichte, das Leben. Fände man nur die richtigen Worte, gelänge es nur, alles in Schrift zu verwandeln, bis zurück an den Anfang. Besäße man vielleicht einen Zipfel der Wahrheit.“ Diese Reflexion über die Möglichkeiten des Erzählens steht im direkten Zusammenhang mit der vierten Erzählebene: Auf Seite 122 bricht die Erzählung plötzlich ab. Typographisch durch eine Majuskel am Kapitelanfang eingeleitet, tritt der 11. September nun durch das Erzähler-Ich ins Buch. Peltzers Roman erfährt hier eine Zäsur. Der bislang vorherrschende Schreibduktus wird unterbrochen, Peltzer dokumentiert nun, was er im Fernsehen sieht, ebenso wie die Kontaktaufnahme zu seiner in New York lebenden Freundin. Hier nähert sich die Erzählung verstärkt an die Erfahrungswelt des Lesers an. Peltzer führt schließlich seine Erzählung zu Ende, „ die der Anschlag unterbrochen hat wie man beim Lesen eine Seite verschlägt, die man auf Anhieb nicht wiederfindet.“ Der ‚Filmriss’ auf Seite 122 ist ein Kunstmittel Peltzers, seine poetologische Antwort auf den 11. September 2001. Am Ende des Buches steht jemand vor einem Schaufenster, mit einer Mappe unter dem Arm, in der sich wahrscheinlich Papier befindet – „ Was sonst? Irgendwelche Blätter, Kopien, Geschichten. Ein erster Satz aus dem Nichts.“

Anders als Bryant Park ist Frédéric Beigbeders Windows on the World durchgehend auf das Ereignis 09/11 konzentriert. In den 119 Kapiteln seines Buches konstruiert Beigbeder eine Geschichte, die sich in den letzten 119 Minuten im Nordturm des WTC zugetragen haben könnte. Parallel zur Geschichte des Protagonisten Carthew Yorston und seiner zwei Söhne beschreibt Beigbeder eigene Gedanken und Erfahrungen beim Verfassen des Romans. „ Sie kennen das Ende. Alle sterben. Natürlich trifft der Tod eine ganze Menge Leute, früher oder später. Das Originelle an dieser Geschichte ist, dass alle zur selben Zeit und am selben Ort sterben.“ Beigbeder gestaltet seinen Text countdown-ähnlich, in dramatisch kurze Kapitel montiert er Zitate und Erinnerungen. Auch Beigbeder reflektiert das grundsätzliche Problem der Literatur nach 09/11: „ Die Realität behindert das Schreiben dieses hyperrealistischen Romans. Seit dem 11. September 2001 wird die Fiktion von der Realität nicht mehr nur übertroffen, sondern ausgelöscht. Man kann über das Thema nicht schreiben, man kann aber auch über nichts anderes schreiben. Nichts erschüttert uns mehr.“ Das Auseinanderbrechen und die ‚Verwirrung’ unserer Wirklichkeitserfahrung zwischen Fakten und Fiktionen demonstriert Beigbeder auf verschiedenen Romanebenen, beispielsweise wenn Yorston seinen Söhnen die tatsächlichen Ereignisse als ein Abenteuerspiel darstellt, um die Kinder zu beruhigen. Auch das gesamte Geschehen am 11. September wird als ‚Spiel’ begriffen. „ Sie haben 102 Minuten lang gelitten – die durchschnittliche Dauer eines Hollywood-Films.“ Doch beschränkt sich Beigbeder nicht nur auf die Vermittlerrolle, mehr und mehr wird das literarische Ich zum Mittelpunkt der Handlung. Seine Gedanken zu den politischen, gesellschaftlichen und ideologischen Konsequenzen von 09/11 nehmen immer weiteren Raum in den Gedanken seiner Figuren ein. Beigbeder konzentriert sich bei der Beschreibung des Geschehens auf das, was man wohl ‚delightful terror’ nennen könnte: auf die explizite sprachliche Ausgestaltung der Todesszenen in den Türmen. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob man in der Konfrontation mit der extremen Gewalt, mit zerschundenen, explodierenden oder zuvor noch kopulierenden Menschen die tatsächlichen Ereignisse besser begreifen kann. Beigbeder will in oft platter Weise Tabus brechen. Obwohl er versucht, durch seine Überlegungen Hintergründe sichtbar zu machen, bleibt sein Roman hier doch eher oberflächlich. Die Konzentration auf seine eigenen Befindlichkeiten vermittelt letztlich den Eindruck einer narzisstischen Selbstbespiegelung, hinter der die übrigen Figuren dann zurückbleiben.

Jonathan Safran Foers Roman „Extrem laut und unglaublich nah“ beschreibt aus der kindlichen Perspektive eines achtjährigen Jungen die Trauer, welche die Anschläge weltweit ausgelöst hat. Der Protagonist Oskar bleibt allein mit seiner Mutter und Großmutter zurück, als sein Vater im World Trade Center umkommt. Die Handlung setzt wenig später ein mit der Erinnerung Oskars an die Fahrt zur Beerdigung des eigentlich leeren Sarges seines Vaters. Die Erzählung folgt der Suche des Jungen nach einem Schloss, in das ein Schlüssel passen könnte, den er in der Kleiderkammer seines Vaters fand und den er als rätselhafte Botschaft deutet. Oskars Odyssee durch New York eröffnet dem Leser ein Kaleidoskop aus Skurrilitäten, Traurigem und Heiterem. Eine zweite Erzählperspektive vermittelt die Lebensgeschichte der Großmutter und des lange Zeit verschwundenen Großvaters. Am Ende von Oskars Suche ergibt sich für den Leser wie für Oskar eine ganz andere Lösung des Rätsels, als vermutet: Der Schlüssel, zu dem Oskars Vater nur durch Zufall gelangte, soll nicht Oskar zu etwas führen – er war für einen anderen Menschen gedacht. Im Augenblick dieser Erkenntnis kann Oskar zum ersten Mal darüber sprechen, dass er sich zwar zu Hause aufhielt, als der Vater aus dem brennenden Nordturm anrief, jedoch wie gelähmt war und das Telefon nicht abheben konnte. Deshalb weiß er nicht, was sein Vater ihm vielleicht noch hätte sagen wollen, und seine Schockstarre entspricht der gesellschaftlichen wie literarischen Lähmung. Die Erkenntnis, dass es folglich gar kein Rätsel gab, verdeutlicht dem Leser die Sinnlosigkeit jedes Versuchs, eine definitive Antwort auf die Fragen nach dem Wie und Warum zu finden. Man muss mit der Einsicht zurechtkommen, dass man nie genau wird wissen können, wie die letzten Stunden für die Toten im WTC abliefen. Foer versucht in seinem Roman erst gar nicht, über diese Unmöglichkeit hinwegzutrösten. Sätze wie „ Besser etwas verlieren, als es nie gehabt zu haben.“ oder aber „Am meisten bedauere ich, so fest an die Zukunft geglaubt zu haben.“ mögen wie platte Weisheiten klingen, doch sind sie in der Handlungsführung aufgefangen und wirken deshalb nicht sentimental, sondern anrührend im ursprünglichsten Sinne: Foer fordert den Leser zur individuellen Auseinandersetzung mit dem Thema heraus.

Wie Ulrich Peltzer zeigt auch Foer ein hohes Maß an Sprachoptimismus und Vertrauen, dass alles in narrative Muster gefasst werden kann. So kommuniziert der verstummte Großvater auf einem Block, die Großmutter schreibt das, was sie nicht sagen kann, in Briefen an Oskar – beide überwinden damit die Lähmung ihrer Ausdrucksfähigkeit. Zwar verbindet Foer diesen ungebrochenen Glaube an Sprache nicht mit dem hohen künstlerischen Anspruch Peltzers, er passt aber recht gut zur Gesamtanlage des Romans. Extrem laut und unglaublich nah wirkt bisweilen wie ein großes Märchen. Es kreiertt mit den Motiven der Schatzsuche oder der Rückkehr des verlorenen Sohnes (im Zusammentreffen von Großvater und Enkel) einen übergreifenden Rahmen und erleichtert damit die Rezipierbarkeit. Zudem bietet die Personalisierung der emotionalen Einsichten im kleinen Oskar auch ein hohes Sympathiepotential. Foer selbst hält sich aus seiner Fiktion heraus, und durch das Bewusstsein des Lesers, es hier mit einer parabelhaften Erzählung zu tun zu haben, bleibenn auch die Interpretationshinweise hinreichend offen. Foer thematisiert Schicksal und Zufall, Verlustangst, das Alleinsein und die Unwägbarkeiten des Lebens und fängt sie tröstlich in der Möglichkeit auf, eben diese Erfahrungen zu kommunizieren – ohne für sich in Anspruch zu nehmen, über das Geschehen am 11. September Bescheid zu wissen. .

Alle drei Romane haben sich dem gestellt, was Frédéric Beigbeder als die Aufgabe literarischer Werke ansieht: „ Sie müssen das Unsichtbare zeigen, das Unsagbare sagen.“ Das heißt auch: Weiter gehen als (Fernseh-)Bilder und aus etwas Fragmentarischem ein Ganzes formen. Denn schließlich ist und bleibt der 11. September 2001 ein Ereignis, zu dessen hartem Kern durchzudringen wohl niemals gelingen wird. In der künstlerischen und auch literarischen Deutung wird man sich immer erst durch ein schwammiges Feld von Annahmen, Mythen, Vermutungen und Teilwahrheiten kämpfen müssen – vorausgesetzt, eine ganze Wahrheit darüber gibt es überhaupt. Folglich ist auch bei jeder künstlerischen Aufarbeitung die Frage nach der Angemessenheit zu stellen. Angemessen ist sie, wenn der Autor ein Bewusstsein davon erkennen lässt dass auch er nur Projektionen bieten kann. Denn je weniger greifbar ein Ereignis erscheint und je weniger es sich in unsere überkommenen Sinnstrukturen einbetten lässt, umso eher greifen wir nach Projektionen als stellvertretenden Erfahrungsräumen. Um zu beschreiben, was man am 11. September im Fernsehen sehen konnte, wurden wohl unzählige Male Vergleiche mit Filmszenen angestellt und entsprechende cineastische Formeln zitiert. Mit solchen ‚Projektionen’ sollte man verantwortungsvoll umgehen, vor allem sollte der Respekt vor dem Thema erkennbar sein. Pädagogisierungen sind da ebenso verzichtbar wie das Ausnutzen der ohnehin bereits hohen emotionalen Aufladung. Nach nunmehr fünf Jahren haben Künstler und Schriftsteller auf verschiedenen Wegen versucht, das Geschehen am 11. September fassbar zu machen – am steht wohl die Einsicht, dass man es nie ganz wird begreifen können. Dennoch sind Deutungsversuche erwünscht. Insofern hat auch Beigbeders extreme Ausgestaltung ihre Berechtigung. Insgesamt ist festzustellen, dass sich nach den ersten spontanen, sehr persönlichen und heute oftmals überholt oder voreilig wirkenden Verarbeitungsformen in der ‚Betroffenheitsprosa’ der Kurztexte eines immer deutlicher herauskristallisiert: Die Literatur hat ihre Sprache und Vorstellungskraft mit dem 11. September nicht verloren, wenngleich nicht alle ihrer Hervorbringungen überzeugen können.

 

Literatur:

Baer, Ulrich (Hrsg.): 110 stories, New York 2002.

Beigbeder, Frédéric: Windows on the world. Berlin / München 2004

DeLillo, Don: In den Ruinen der Zukunft. Gedanken über Terror, Verlust und Zeit im Schatten des 11. September. In: Literaturen Special, Jan./Feb. 2002

Fludernik, Monika: Erhabene Postmoderne? Technologie, Gewalt und Ästhetik zwischen der Atombombe und dem 11.September 2001. In: Alber, Jan, Monika Fludernik (Hrsg.): Moderne/Postmoderne. Trier 2003,

S.243-267

Foer, Jonathan Safran: Extrem laut und unglaublich nah. Köln 2005

Jäger, Christian: „Fight the power!“ Terrorismus als popkulturelles Phänomen und als erzähltechnisches Problem . Manuskript zum Vortrag am 05.12.03 auf der Tagung „Mythos Terrorismus. Vom Deutschen Herbst zum 11. September. Fakten, Fakes und Fiktionen“ des Internationalen Arbeitskreises für Literatur und Politik in Deutschland in der Karl-Arnold-Stiftung (Königswinter bei Bonn)

Köhler, Andrea: Literatur. Eine Kolumne. Ground Zero. In: Merkur: Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 3, 56. Jahrgang 2002, S. 234-239

Mangold, Ijoma: Kommunikation auf allen Kanälen. Mit Jonathan Safran Foer auf Deutschlandtour. In: Süddeutsche Zeitung vom 22.09.2001. S. 16

Morrison, Toni (Hrsg.): Dienstag 11. September 2001. Reinbek bei Hamburg 2001

Peltzer, Ulrich: Bryant Park. Zürich 2003

Rensmann, Nicole u.a. (Hrsg.): Gedanken im Sturm. Berlin 2002

Röggla, Kathrin: really ground zero. 11. september und folgendes . Frankfurt a.M. 2001

Werber, Niels: Der Teppich des Sterbens. Gewalt und Terror in der neuesten Popliteratur. In: Weimarer Beiträge, Heft 1, 49. Jahrgang 2003, S. 55-69



Verfasserin: Kerstin Welter; Datum der Veröffentlichung: 11.04.2007
   


 
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