Ben Wolter


Flugzeuge im Bauch oder: wie entscheiden wir über Verschwörungstheorien?


Abstract: Dieser Aufsatz setzt sich mit der Argumentationsweise konspirologischer Autoren auseinander. Im Vordergrund steht dabei das Buch „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“ von Mathias Bröckers und Andreas Hauß. Im Vorwort betont Bröckers, er wolle lediglich als „Dokumentarist“ und seinerseits gerade nicht „Konspirologe“ auftreten. Im Folgenden soll demgegenüber allerdings gezeigt werden, dass die Autoren nicht als Kritiker von Verschwörungstheorien auftreten, sondern sich vielmehr an ihrer Verbreitung beteiligen.

Zwei Monate nach den Anschlägen des 11. September 2001 sprach George W. Bush in New York zum erstenmal in seiner Amtszeit vor der UN-Vollversammlung. In Bezug auf Verschwörungstheorien äußerte er sich in seiner Rede folgendermaßen:

“We must speak the truth about terror. Let us never tolerate outrageous conspiracy theories concerning the attacks of September the 11th, malicious lies that attempt to shift the blame away from the terrorists themselves, away from the guilty. To inflame ethnic hatred is to advance the cause of terror.”

Dieser Wunsch des amerikanischen Präsidenten ist nicht in Erfüllung gegangen, ganz im Gegenteil: Verschwörungstheorien über die Attentate des 11. September 2001 sind bis heute äußerst populär.

Autoren, die eine Verschwörung annehmen, stellen etwa Fragen nach der Identität der neunzehn Attentäter, nach deren Fähigkeiten, ein Flugzeug zu fliegen, nach dem Verhalten der Attentäter vor dem Attentat sowie allgemein nach der Beteiligung von Al Qaida. Außerdem äußern sie große Zweifel an der Beschaffenheit der Flugzeugüberreste an den Absturzstellen im Pentagon und in Pennsylvania: Vor allem wundern sie sich über das Versagen bzw. das Nichteingreifen der amerikanischen Flugsicherung.

Die Methoden der einzelnen Autoren folgen ähnlichen Mustern. Sie vergleichen bisher veröffentlichte Angaben der US-Regierung mit Presseberichten zum Thema und bevorzugt mit Informationen aus dem Internet. Die dabei in der Tat auffallenden Widersprüche und Lücken werden sogleich ausgenutzt, um nunmehr eigene Spekulationen aufzustellen, freilich ohne dafür irgendwelche handfeste Beweise vorlegen zu können. Der ehemalige Bundesminister Andreas von Bülow, der seinerseits unhaltbare Verschwörungstheorien in die Welt gesetzt hat, hält Beweise gar nicht für nötig: „Ich habe ja nicht die Beweislast. Die Beweislast hat die amerikanische Regierung.“ (Vgl. „Der Spiegel“ vom 4. August 2003.)

Es fällt auf, dass die Verschwörungstheoretiker die zahlreichen, ihnen widersprechenden Zeugenaussagen wegen deren angeblich falschen Wahrnehmung umstandslos ignorieren. So sagt zum Beispiel Gerhard Wisnewski in Bezug auf die Pentagon-Attacke:

„Man kann den Zeugen nicht recht glauben. Manche lügen vielleicht aus irgendeinem Grund, aber andere haben möglicherweise wirklich etwas gesehen, was sie an einen Passagierjet erinnerte.“ (Vgl. „Der Spiegel“ vom 8. August 2003.)

Verschwörungstheoretiker legen eine sture Unbelehrbarkeit an den Tag. Kritiker ihrer Theorien werden als Mit-Verschwörer abgestempelt. Dubiose Quellen aus dem Internet genießen größeres Vertrauen als Quellen, die allgemein für seriös gehalten werden.

Mathias Bröckers ist wohl der prominenteste deutsche Vertreter derjenigen Autoren, die hinter den Anschlägen in New York unaufgedeckte Verschwörungen vermuten. Der ehemalige Feuilletonchef der taz führte seit dem 13. September 2001 in dem Online-Magazin telepolis ein konspirologisches Tagebuch. Dieses aktualisierte er regelmäßig bis zum 22. März 2002 und veröffentlichte es schließlich als zweiten Teil seines im Verlag „Zweitausendeins“ erschienenen Buches „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“. Ein Jahr später publizierte er zusammen mit Andreas Hauß weitere Überlegungen zum 11. September unter dem Titel „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“. Schon zuvor sympathisierte Bröckers mit diversen Verschwörungstheorien. Bröckers war u. a. als Herausgeber des „Lexikons der Verschwörungstheorien“ von Robert A. Wilson tätig. Kurz vor dem 11. September 2001 schrieb er einen Artikel über Verschwörungstheorien, und so überkam ihn am Tag des Terrorangriffs sofort der „Verdacht, dass da was nicht stimmen konnte“, ein Gefühl, „das eher aus dem Bauch“ gekommen sei und „anfangs kaum konkrete, rationale Gründe“ hatte. Bröckers meint, dass ein wissentliches Wegschauen der Geheimdienste, des Militärs und der Regierung die Anschläge erst ermöglicht habe. In diesem Sinne spricht er von einem „Turmopfer im geopolitischen Schach“. (Alle Zitate aus „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“ Im Folgenden stammen die nicht belegten Zitate aus „Fakten, Fälschungen und die unterdrückten Beweise des 11.9.“.)

Eigentlich will Bröckers (wie gesagt) „die Haltung des Dokumentaristen ein[nehmen]“ und „den Job des ‚Konspirologen’ fürs Erste an den Nagel [hängen]“. Anders als die „großen Medien“, die „sich nolens volens zu Marionetten einer Propagandaoperation“ gemacht hätten und anders „als PR-Agenturen des Weißen Hauses und des Pentagon“, geht es Bröckers um die „Dokumentation der gesicherten Ungereimtheiten“. Er empfiehlt seinen Lesern eine „virtuelle Konditionierung“, um das „Gehirn in Sachen 11.9. in den quasi jungfräulichen Zustand [...] zurückzuversetzen“, die ideale Ausgangslage für den Leser sei ein völliges Nichtwissen. (Diese Formulierungen, infolge derer alle Erklärungen gewissermaßen bei Null beginnen wollen, sind übrigens, das mag freilich purer Zufall sein, fast wörtliche Zitate aus Dan Browns Verschwörungs-Thriller „Meteor“. Dort heißt es auf Seite 373: „Vergiss alles, was du drüber weißt. Sie zwang sich, ihre Gedanken neu zu ordnen. Sie versuchte es mit dem alten NRO-Trick, wenn die Teile nicht zusammenpassen wollten: die Beweiskette von Null an neu aufzubauen. Jeder Datenanalyst hatte den ‚Nullstart’ trainiert. Wie gehören die Beweise zusammen? [...] Vergiss alles, was nur auf Annahmen beruht. Fang wieder ganz von vorne an.“)

Bröckers schreibt, dass die bis heute präsentierte Wahrheit über den 11. September nichts anderes sei als ein „dürftiges Konstrukt.“ Bröckers Vorgehen stützt sich auf die sogenannten „elusiven Informationen“. Dies sind Meldungen, die kurzzeitig in den Medien auftauchen und ebenso schnell wieder verschwinden, weil sie sich nicht weiter bestätigen, weil sie sachlich irrelevant bleiben. Das Sammelbecken des Internets fängt jedoch genau solche Meldungen auf und macht sie für jedermann zugänglich. Bröckers glaubt vor allem dieser unausgesetzten Internet-Kommunikation: „Zweimal täglich googeln und sich sein eigenes Bild machen – das hilft zuverlässig gegen virulente Manipulationen, Propaganda-Infektionen und drohende chronische Verblödung!“ ( Vgl. „Verschwörungen, Verschwörungstheorien und die Geheimnisse des 11.9.“)

Bröckers sieht seine Arbeit in der Tradition der „absolute[n] Unbedingtheit einer freien Presse“. Seine Arbeit stehe im Geiste der Aufklärung und werde von einem „hartnäckige[n] demokratische[n] Impetus“ angetrieben. Schließlich sei es

„die verdammte Pflicht jedes Journalisten, auf den gigantischen Skandal aufmerksam zu machen, der sich hinter dem unaufgeklärten Massenmord des 11. September verbirgt.“

Dieser Skandal betreffe hauptsächlich die „Geheimdienste und Militärs der Vereinigten Staaten.“

In dem Kapitel „Eine kurze Geschichte des Nichtfliegens“ schildern Bröckers und Hauß das Verhalten der Luftabwehr am 11. September. In der Tat wurden weder die zwei Flugzeuge, die in die WTC-Türme gelenkt wurden, noch die Boeing 757 (Flug AA-077), die in das Pentagon stürzte, abgefangen. „Der sensibelste Luftraum der Welt [war] fast zwei Stunden lang offenbar völlig unbewacht.“ Zunächst beschreiben die Autoren den sogenannten Quick Reaction Alert (QRA). Es handelt sich dabei um die ständige Alarmbereitschaft von mindestens zwei Abfangjägern. Im Notfall müssten diese Jäger gemäß NATO-Standard nach maximal fünfzehn Minuten in der Luft sein. Die US-Air-Force habe diesen Standard immer weiter verbessert und sei längst in der Lage, sogar innerhalb von zehn Minuten die Kampfjets aufsteigen zu lassen. Doch in den 100 Minuten zwischen dem ersten Alarm, ausgelöst um 8.24 Uhr durch Flug AA-011, und dem Absturz von Flug UA-093 in Pennsylvania, passierte, so Bröckers und Hauß, rein gar nichts. Zwar waren nach Angaben des Nordamerikanischen Luftverteidigungskommandos (NORAD) 14 Kampfjets im QRA-Status, die dann aber zu spät oder erst gar nicht abhoben. Warum dies so war, kann niemand verlässlich beantworten, der nicht unmittelbar mit den Abläufen der NORAD vertraut ist. In jedem Falle lässt sich jedoch aus der puren Tatsache, dass die Abfangjäger nicht eingegriffen haben, allein noch keine Verschwörung beweisen.

Gleichwohl sehen Bröckers und Hauß durchaus Anlass, eine Verschwörung zu konstatieren. Die Homepage der „District of Columbia Air National Guard“ (DCANG), verantwortlich für die Überwachung und Verteidigung des Luftraums über Washington D.C., sei zwei Tage nach den Anschlägen verändert worden. Bröckers und Hauß fiel nämlich auf, dass ein zentraler Satz jetzt gelöscht war: „DCANG-MISSION: To provide combat units in the highest possible state of readiness.“ Dieser Satz fehlte zwei Tage später genauso, wie die Abfangjäger am 11. September. Daraus schließen die Autoren:

„Solche Kapriolen schlägt eine ‚Informationspolitik’, die ganz offensichtlich etwas zu vertuschen hat. Denn warum sonst ist dieses völlig selbstverständliche und harmlose ‚Mission Statement’ von der Homepage der National Guard verschwunden? Doch wohl nur, weil bitte, bitte niemand nachfragen soll, warum genau diese Mission am 11. September nicht erfüllt wurde.“

Für das Löschen eines Satzes könne es nur einen einzigen Grund geben: Teilhabe an einer Verschwörung.

Nachzulesen ist auch die „Legende von den zwei einsamen Abfangjägern, die zu spät kamen.“ Von der Otis-Militär-Basis in Cape Cod sollen zwei F-15 gestartet sein und die Verfolgung der entführten Flugzeuge aufgenommen haben. Widersprüchliche Angaben bei der Startzeit der Kampfjets untermauern das Misstrauen der Autoren. Der Nachrichtensender „Channel 4“ nannte als Startzeit dieser Kampfjets 8 Uhr 39 Uhr. Später wurde eine Alarmierungszeit um 8 Uhr 38 Uhr genannt und eine Startzeit der Jets um 8 Uhr 52 Uhr. Wieder andere Quellen sprechen von einer Startzeit um 8 Uhr 43 Uhr. Außerdem bezweifeln Bröckers und Hauß die verfügbaren Angaben über die Fluggeschwindigkeit der Jets. Für die Strecke von Cape Cod nach Manhattan brauche ein F-15 Jet etwa zehn bis zwölf Minuten. Wie also konnten die Maschinen selbst bei der spätesten Startzeit von 8 Uhr 52 Uhr elf Minuten später, also beim Einschlag des zweiten Flugzeugs, noch mehr als 100 km von dem WTC entfernt sein? Indessen gibt es auch bei einer derartigen Sachlage mehrere Möglichkeiten, das Nichteingreifen der Jets zu erklären, als nur die einer Verschwörung. Das ‚Versagen’ der Luftabwehr kann durchaus als eigenes Phänomen betrachtet werden und muss nicht zwangsläufig in den größeren Kontext einer einzigen Verschwörungstheorie gestellt werden.

Zeugen werden willkürlich nach „glaubwürdig“ bzw. „unglaubwürdig“ eingeteilt. Für Bröckers und Hauß ist der Direktor der öffentlichen Schule von Otis, William Wibel, ein „unbestechlicher Zeuge“. Wibel, dessen Schule sich in der Nähe der Militär-Basis befindet, habe erst „nach 9.00, möglicherweise auch erst gegen 9.30 Uhr“ den Fliegeralarm, die Starthektik gehört. Während die Autoren sich noch kurz vorher auf jede Minute kapriziert haben, erscheinen bei diesem Zeugen nun Abweichungen von einer halben Stunde geradezu als Zeichen der Glaubwürdigkeit (obwohl ja beide Zeitangaben von Herrn Wibel nicht mit den zuvor genannten Startzeiten übereinstimmen). Widersprüche lösen die Autoren in einem System geradezu endloser Querverweise auf, in denen alles mit allem konspirativ zusammenhängt.

Letztlich entscheiden Gefühle und Vertrauen über die Glaubwürdigkeit einer Verschwörungstheorie. Es entscheidet, wie auch bei Mathias Bröckers, eher das „Bauchgefühl“. Die politische Orientierung spielt eine wichtige Rolle bei der Entscheidungsfindung: Geht unser Antiamerikanismus so weit, der amerikanischen Regierung ein bewusstes Geschehenlassen der Anschläge zu unterstellen? (Vgl. dazu auch den Essay von Bernd Scheffer: „Irakkrieg – welchen Verschwörungs-theorien soll man den Vorzug geben? Deutungslose Welt-Zeichen und Coolness“. Entscheidet sich jemand von vornherein für die Möglichkeit einer Verschwörung, dann spielen selbst die widersprechenden „Fakten“ oder „Gegenbeweise“ nur noch als Beweise für eine Vertuschung eine Rolle: Alles kann auch anders interpretiert werden. Wie bei einem Horoskop werden nur die Teile ausgewählt, die in das eigene Bild passen, der unstimmige Rest wird einfach ignoriert.

Wenn aber alles offen bleibt, wenn aber alle Erklärungen gleichwertig sind, dann wird aber eben damit auch der Wunsch von Mathias Bröckers, die Verschwörungstheorie als kritische Wissenschaft zu etablieren, schwerlich in Erfüllung gehen können.


Verfasser: Ben Wolter; Datum der Veröffentlichung: 15.09.2006
   


 
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