Niklas Luhmann / Tod von Niklas Luhmann / Nachruf / Systemtheorie / Gesellschaftstheorie |
Oliver Jahraus Nachruf auf Niklas Luhmann Abstract: Der Tod von Niklas Luhmann dient als Anlaß, die eigene Betroffenheit und die Entwicklung der Systemtheorie spannungsreich aufeinander zu beziehen. Das Werk dieses exzeptionellen Denkers des 20. Jahrhunderts erlaubt nicht nur einen Rückblick auf radikale Tendenzen der Theorieentwicklung wie z.B. die Autoreflexivierung der Theorie selbst, sondern eröffnet auch prognostische Ausblicke auf die weitere Entwicklung einer scientific community unter systemtheoretischen Vorzeichen für das 21. Jahrhundert. Niklas Luhmann, geb. am 08.12.1927, gest. am 07.11.1998, hat es dennoch geschafft. Die Systemtheorie, seine Erfindung, als Gesellschaftstheorie, als Theorie sozialer Systeme generell ist vollendet, auch wenn die naturgemäß Fragment bleiben mußte. Doch sollte die Systemtheorie mit dem aus der Differenz von Vollendung und Fragment resultierenden Paradox nicht fertig werden, wo sie doch schon mit ganz anderen Paradoxien fertig geworden ist? Denn diese Systemtheorie ist die Theorie, die es als erste geschafft hat, Paradoxien produktiv umzumünzen und sich dort erst eigentlich zu entfalten, wo andere Theorien schon längst in die Aporie geschlittert sind. Sie ist vollendet. Wir kennen die endgültige Form. Die Metaphern sind angesichts dieser Form einschlägig: Wir kennen die Architektur, die Anlage, das Design, die Maschine. Einzelne Trakte sind nicht gebaut, viele Pläne, nur angedeutet, sind nicht verwirklicht, vieles ist noch ungeformt, viele Ingenieursleistungen stünden noch aus. Der Begründer wird es nicht mehr vollenden. Dennoch sehen wir die Systemtheorie - zunächst - vor uns, und wenn wir genauer beobachten, beobachten wir uns in ihr, im System der Systemtheorie. Man kann durchaus Hegelsche Denkfiguren bemühen. (Warum auch nicht, war doch ihr Begründer Hegel-Preisträger, vielleicht nicht umsonst.) Die Systemtheorie ist zu sich selbst gekommen. Vielleicht ist es auch nur eine Frage der Zeit, bis die Gesellschaft, in der wir leben, zu sich kommt, also zur Gesellschaft der Systemtheorie. Und selbst das, was vorhanden ist, können wir kaum
überblicken. Luhmanns Publikationsliste ist selbst zu einem Werkteil
geworden, der das Werk noch einmal verlängert, in Ausläufer,
Verästelungen und Ausuferungen hinein, die sich unserem Zugriff
entziehen. Die unpublizierten Manuskripte stapeln sich immer noch. Es
wird Luhmann-Publikationen mit den Jahreszahlen 1999, 2000 usw. geben.
Wir müssen uns es eingestehen, daß unsere Lebenszeit als zur Verfügung
stehende Lesezeit begrenzt ist, und fragen uns doch, wie kann ein Mensch,
ein Individuum, ein Subjekt alleine das alles überhaupt erst schreiben.
Ein beeindruckendes Werk lag schon vor, als Luhmann 1984 seine Sozialen
Systeme herausbrachte. Und doch waren sie erst der Anfang. Sie waren
quasi sein discours de la méthode. Keine Zusammenfassung, sondern eine
grandiose Eröffnung, die - sozusagen als Stahlgerüst - die Entfaltung
und Errichtung jener Systemtheorie als Gesellschaftstheorie in allen
seinen Funktionskomponenten in Angriff nehmen sollten. Das Funktionssystem
Religion war bereits in Ansätzen ausgearbeitet, es folgten die
Wirtschaft, das Recht, die Wissenschaft und die Kunst. Und als letztes
großes und größtes Werk Luhmanns: Die Gesellschaft
der Gesellschaft. Noch mit der Formulierung der Todesnachricht - "nach
langer schwerer Krankheit" - im Ohr, ergibt sich eine zumindest veränderte,
wenn nicht andere Perspektive auf dieses zweibändige Werk. Nicht
nur ein Opus magnum, sondern auch ein Opus ultimum. Ein Endpunkt, eine
Vollendung ganz anderer Kategorie, ein Schlußpunkt eines Werkes,
das wie kaum ein anderes auch Lebens-Werk ist, ein Vermächtnis
nunmehr?! Sicherlich auch! Es gewinnt eine zusätzliche Bedeutung,
wenn man nun konstatiert: Mit dieser Autoreflexivierung ist die Systemtheorie
an ihr äußerstes Ziel kommen, und das heißt nichts
anderes als: zu sich selbst. Damit sollte der Bogen zurückgeschlagen
werden zu den - zumindest konzeptionell - am Anfang, im Fundament liegenden
Sozialen Systemen. Wo die Sozialen Systeme das Gerüst darstellten, stellte
die Gesellschaft die Form des Gebäudes dar, auf das der Plan hinauslief.
Das eine war Entfaltungsprinzip, das andere war das Entfaltungsziel,
woraufhin sich die Theorie zubewegte. Daß am einen Ende der Begriff
des sozialen Systems, am anderen Ende der Begriff der Gesellschaft steht,
zeigt aber auch, daß beide Extrempunkte aufeinander bezogen sind.
Das Entfaltungsprinzip entfaltet sich selbst als das zu Entfaltende
und schließlich Entfaltete. Es ist aber auch ein Symptom dafür,
daß die Theorie ihren Gegenstandsbereich so konzeptualisiert,
daß sie selbst in ihm wieder auftritt. Umgekehrt gilt aber das
Gleiche: Nicht nur tritt die Systemtheorie in der Gesellschaft, die
sie selbst konzeptualisiert, auf, auf diesem Wege tritt auch die Gesellschaft
als Konzeptualisiertes wieder in der Konzeptualisierung, also in der
Systemtheorie auf: Die Gesellschaft (in) der Gesellschaft. Wenn es sich überhaupt lohnt, Luhmann zu verteidigen,
oder noch nicht einmal dies, sondern vielmehr, ihn überhaupt Konkurrenzunternehmen
auszusetzen, dann nur bei solchen Theorien, die sein Abstraktionsniveau
haben. Ich denke an die Dekonstruktion, an den Konstruktivismus, den
die Systemtheorie adaptiert hat, ich denke an andere Systemtheorien.
Ich denke an Paris, an die USA, vielleicht auch Bamberg, ich denke auch
an Siegen oder Münster. Natürlich ist die Systemtheorie als Gesellschaftstheorie eine soziologische Theorie. Wie gesagt, man wird sich schwer tun, es ihr abspenstig zu machen, erfordert es doch einen Theoriekampf, in dem die Systemtheorie hochgerüstet ist wie keine Theorie sonst. Und trotzdem greift diese Rubrizierung zu kurz. Doch was dann? Doch Philosophie? Eine andere Rubrik? Wo, wenn nicht in einem Nachruf auf ihren Begründer, wird man einer solchen Frage nachgehen können und müssen? Man braucht sich nur jenen Gesellschaftsbegriff anzusehen, wie er in das wechselseitige Konstitutionsverhältnis von Konzeptualisierung und Gegenstand eingebunden ist. Gesellschaft ist ein Letzthorizont - kein soziologisch faßbarer, sondern weit mehr, ein theoretischer Letzthorizont. Macht man sich die Mühe, Philosophiegeschichte vornehmlich nach solchen Unternehmungen einer Letztbegründung abzusuchen, stößt man auf eine lange Reihe von denknotwendigen Aporien. Auch in der Systemtheorie. Und dennoch, ein Theorievergleich lohnt sich. Keine andere Theorie hat es geschafft, mit Aporien so produktiv umzugehen wie die Systemtheorie. Der Eindruck, daß die Systemtheorie hier eine gebremste
Flucht nach vorn angetreten hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Paradoxien,
die in Aporien führen, resultieren ihrerseits aus Autoreflexivierungen.
Und überhaupt: Wer vorschnell vor den Kosten des Subjektverlustes
zurückschreckt, übersieht die Gegenleistung. Ich möchte fast fragen:
Mag sein, daß eine solche deutsche Systemtheorie
nicht die Attraktivität mit sich bringt, um eine intellektuelle
Theorieavantgarde und -elite auch im kommenden Jahrtausend an sich zu
binden. Dann wird Systemtheorie an die Peripherie verschwinden und zur
Fußnote werden. Wenn dieses Worst-case-scenario eintreten sollte,
dann nur unter der Voraussetzung, daß künftige Denker nicht bereit
sind, sich diesem Denk- und Sprachjargon zu unterziehen, und daß
sie die Leistungskapazität der Systemtheorie falsch einschätzen
oder nicht richtig einschätzen wollen. Überblickt man indessen
das Kapital der Systemtheorie, so können noch Generationen allein
von ihren Zinsen gut leben. Es wird keinen zweiten Luhmann geben, kein
Kronprinz, der allein den Thron besteigt. Systemtheorie, und das ist
eine schöne denkerische sowie politische Utopie, die Topos werden
kann, Systemtheorie also wird Republik werden, vielleicht ein wenig
aristokratisch, mit Kader und Kritiker, die sich wechselseitig darum
streiten, Kader oder Kritiker, in jedem Fall aber das jeweils andere
sein zu wollen. Ich hoffe, es sterben die aus, die sich als Nachlaßverwalter
verstehen und das Erbe nicht freigeben wollen. Die Pseudopriester, die
mit Hinweis auf die Schriften jede konstruktive Interpretation verweigern.
Wenn es gelingt, und es muß gelingen, weil diese Soldateska das
Erbe im Gestus seiner Beschützung zu schnell verspielen wird, diese
wenigen zu umgehen, dann wird aus der wissenschaftlichen Weiterentwicklung
der Systemtheorie ein Ideal werden, das - vielleicht horribile dictu
- einst von einem anderen Gegenspieler evoziert wurde, zu einem großen,
freien, verständigen Diskurs à la Habermas. Systemtheorie, wenn sie denn einen Wert hat, der ihr Überdauern
zu rechtfertigen vermag, dann doch wohl nur den, daß sie Passion
und Spiel zugleich ist. Und Luhmann ihr Meisterspieler, ihr Magister
ludi. Was nun das Überleben der Systemtheorie angeht, muß man vielleicht doch ein bißchen systemtheoretischer werden: In der Tat, biologische Systeme können sterben, Leben kann vergehen. Aber es gibt Systeme, die können nicht untergehen. Bewußtsein z.B. oder ein soziales System. Einfach nur, weil ‚ihr' Untergang nicht Teil ihres Prozessierens ist. Wenn dies für die Gesellschaft gilt, dann gilt es erst recht für die Systemtheorie, die Teil der Gesellschaft ist, die ihrerseits wiederum Teil der Systemtheorie ist. Ein Paradox, was sonst! Deswegen: Die Systemtheorie kann nicht sterben, auch wenn ich um ihren Begründer trauere. Wir werden sein Spiel weiterspielen! |
Ausführlichere Angaben zum Thema über e-mail beim Verfasser: oliver.jahraus@split.uni-bamberg.de |
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