Körper / Kunst / Medien / Mode / Performance / Piercing / Schminken / Schönheitsoperation


Rainer Topitsch

Das Fleisch wird Wort - Zur kulturellen Praxis der Körperbeschriftung


Abstract: Der vorliegende Artikel führt eine Diskussion weiter, die in den "Medienobservationen" von Julia Böllhoff mit "Geschichte, Geschichten - HERstory, HIStory" angeregt wurde. Was wird im Medienzeitalter aus dem Körper? Gegenwärtig ist in Kunst, Populär- und Alltagskultur eine Lust am "nicht-naturalistischen", am gestylten und inszenierten, d.h. am anderen Körper zu beobachten. Die Rolle der Medien dabei läßt sich nur paradox beschreiben: Einerseits präsentieren sie uns andere, sinnliche und extreme Körper, andererseits koppeln sie mit ihren "nur" simulierten und virtuellen Welten unsere Körper von sinnlichen Erfahrungen ab. Dies führt einerseits dazu, daß die Praxis ungewöhnlicher Körperinszenierungen längst ein kulturelles Phänomen ist und bedingt andererseits den extremen Wunsch nach Realität, wie er sich in der Popularisierung des Schmerzerlebens zeigt.


Während hier und da das Ende von Literatur und Kunst beklagt wird, ist gegenwärtig eine Tendenz zu verzeichnen, den eigenen Körper selbst als Text oder Kunstwerk zu konstituieren. Traditionell wurden fiktionale Welten nur imaginiert, jetzt geht es zunehmend darum, fiktionale Welten zu verkörpern. Robert Musil wollte noch den inneren Menschen neu erfinden, nunmehr wird auch der äußere neu erfunden. Zunehmend ist das Begehren beobachtbar, einen anderen Körper zu verkörpern. Wenn das Leben zur Literatur, zur Kunst wird, muß sich auch der Körper ändern. So verkündete schon Arthur Rimbaud, der bekanntlich eines Tages zu schreiben aufhörte, um zu leben: "Ich werde meinen ganzen Körper mit Einkerbungen versehen, ich werde mich tätowieren, ich möchte häßlich wie ein Mongole werden."

In der Kunst ist die Auseinandersetzung mit dem Körper schon seit längerem das Thema. Am radikalsten bis heute erscheinen die Inszenierungen des "Wiener Aktionismus" der sechziger Jahre, in dessen orgiastischen Happenings der verstümmelte, der bandagierte, der beschmierte Körper gezeigt wurde. Oder man erinnere sich an die Selbstverbrennungen und Selbstverletzungen Gina Panes in den siebziger Jahren. Der australische Performance-Künstler Stelarc trieb sich 1985 Ringe in seinen Körper und ließ sich daran von einem Kran in die Höhe ziehen (Aktion "City Suspension", Kopenhagen). Zunehmend kommt auch in der künstlerischen Fotografie der andere, ungewöhnliche Körper zum Vorschein. Provokativ ist in diesem Zusammenhang - zumal im Kontext der Kunst - sicherlich Hannah Wilkes Porträt, das den mit Narben übersäten Oberkörper ihre Mutter zeigt, der eine Brust amputiert wurde. Die Künstlerin Annegret Soltau näht gegenwärtig zerstückelte Aktfotos zusammen und präsentiert somit den unmöglichen Körper, was sogar heute noch für Schockwirkungen und Skandale sorgt: "Bespuckt, beschimpft, verfemt", titelte die "Süddeutsche Zeitung". Auch die Fotocollagen von Joel-Peter Witkin, in denen Fotos von Leichenteilen in Fotos von lebendigen Körpern montiert sind, werden als "pervers, abstoßend und krank" bezeichnet.

Harmlosere Auseinandersetzungen mit dem Körper haben sich allerdings umfassend in der Kunst etabliert. Auch anläßlich der gegenwärtigen Kunstrezeption ist eine Rückwendung zu jener Avantgarde zu verzeichnen, die schon zu Beginn dieses Jahrhunderts die körperliche Selbstinszenierung zelebrierte. In der Perspektive des gegenwärtigen Körperkults werden Künstler und Künstlerinnen aktuell, die jahrzehntelang vergessen waren; so etwa Claude Cahun, deren Fotografien kürzlich in München ausgestellt wurden und die mit ihren androgynen Inszenierungen, ihren kurzgeschorenen pinkfarbenen, grünen oder goldenen Haaren selbst André Breton entsetzte. Wiederentdeckt wird auch die New Yorker Dadaistin Elsa von Freytag-Loringhoven, die ihren Körper als Leinwand benutzte und die öffentlichkeit schockierte, wenn sie etwa einen Büstenhalter aus Tomatensuppendosen trug, an dem ein Vogelkäfig mit einem Kanarienvogel baumelte, und sich auf den Po eine leuchtende Glühbirne montierte.

Indes hat die zeitgenössische Kunst auch keine Berührungsängste mehr mit den anderen, kommerzialisierten Körpern der Fotomodelle. Die niederländische Künstlerin Klaar van der Lippe hat 1995 ihre eigene körperliche Umgestaltung zum Fotomodell in der Videoinstallation "Newer, Better, Higher" dokumentiert. Mittels Sport, einer Schönheitsoperation und Kosmetik stellt Klaar van der Lippe einen neuen Körper her, wechselt außerdem ihr soziales Umfeld und nimmt sich einen neuen Freund. Diese Modifikation der eigenen Realität ist ihren Angaben zufolge von dem Wunsch inspiriert, so zu sein wie die Models in den Werbeanzeigen. Die Medienwelt ist für Klaar van der Lippe das Jenseits der Gegenwart, das es zu verwirklichen gilt. Auf noch radikalere Weise begann die Pariser Performance-Künstlerin Orlan 1990 damit, sich mittels fünfzehn Schönheitsoperationen in ein vollkommen neues Wesen zu verwandeln, dessen Aussehen eine Collage aus Werken der Kunstgeschichte bildet. Ihr Wunsch war es, das erste wirklich menschliche Kunstwerk zu werden. Als sie die "Abfälle" ihrer Operationen in einer französischen Talkshow präsentierte, war der Skandal perfekt. "In diesem kleinen Fläschchen ist ein bißchen von meinem linken Auge. Hier drin sind Schnipsel meines Knies. Und da ist ein wenig von meinem Venushügel." Freilich wird jede Operation als Medienereignis inszeniert. Der "Stern" schreibt: "Jede Operation ist eine Inszenierung, die vom ersten bis zum letzten Moment für die Nachwelt filmisch und fotografisch festgehalten wird. Das stets wechselnde Design der OPs hat Orlan selbst entworfen, die Kostüme - auch das Operationsteam muß sich verkleiden - stammen vom futuristischen Modemacher Paco Rabanne."

Derweil hat die Praxis der extremen Körperbeschriftung längst auf die Gesellschaft übergegriffen. Ich spreche davon, daß Piercing-Studios boomen, daß selbst Beschneidungen aus ästhetischen Gründen plötzlich "in" sind (wie die Münchner "Abendzeitung" berichtet) und kein Abend im deutschen Fernsehen vergeht, ohne daß über Brustvergrößerungen bzw. -verkleinerungen, über Penisverlängerungen und dgl. diskutiert wird. Selbst in der Kosmetik-Branche ist eine Tendenz weg vom Postulat der Natürlichkeit verspürbar. Die Industrie produziert Farben für Lippenstift und Nagellack, deren Verwendung vor einiger Zeit noch eine Provokation gewesen wäre: Diesen Winter sei schwarz die Farbe für Lippen und Nägel, berichtet die "Süddeutsche Zeitung". Kosmetikwerbung, die immer noch "natural colours", "natürliche Schönheit" und das "Make-up, das man nicht sieht" propagiert, wirkt schon anachronistisch. Selbst bei den Models, die für die Schönheitsindustrie werben, sind Abweichungen von standardisierten Schönheitsidealen zu beobachten. So entspricht etwa Alek Wek aus dem Sudan, die derzeit von Insidern gefeiert wird, überhaupt nicht den Maßen und Normen, die noch von den etablierten westlichen Models verkörpert werden. Rainer Schmidt beschreibt Alek im "Zeit-Magazin" auf folgende Weise: "Kurze Haare, breite Nase, ein kräftiges Gesäß, das Kate und Naomi in den Selbstmord treiben würde, schwarze Haut. Tiefschwarze Haut. Kurzum, die Frau sieht so aus, wie man eigentlich nicht aussehen darf in einer Zeit, in der teilweise immer noch die Regel gilt: 'Black covergirls don't sell.' In der schwarze Models nur Erfolg haben, wenn sie doch westlich aussehen und nicht, als kämen sie gerade aus dem Sudan." Indes erregt sich der amerikanische Präsident über den vor allem von Calvin Klein propagierten "Heroin Chic", der von Models präsentiert wird, die nach Ansicht besorgter amerikanischer Elternverbände wie Heroinsüchtige aussehen und somit angeblich zum Drogengenuß animierten.

Längst haben Elemente des "Wiener Aktionismus", der in den sechziger Jahren für Skandale sorgte, Eingang in die Populärkultur gefunden. Protest dagegen regt sich nur noch bei moralischen Hardlinern. Allenfalls in München wird noch die obszöne und orgiastische Show der Rockgruppe "Rock Bitch" verboten. Die Hardrockgruppe "Marilyn Manson" feiert auf der Bühne und in ihren Videos archaische Rituale und stellt ihre wilden, mit Brandings und Narben übersäten Körper und deren kaum mehr transvestistisch zu nennenden Bemalungen auf der Bühne zur Schau - und beruft sich zur Begründung ihres Konzepts auf Friedrich Nietzsche. Die Rocksängerin P.J. Harvey singt von ihren Phantasien, ihrem Geliebten die Beine zu amputieren. Der schwergewichtige Hermes Phettberg, bekennender Masochist und Körperkünstler, wurde in österreich als Talkmaster zur Kultfigur. Schrill, bunt und androgyn gibt sich auch die Technoszene, wie sie etwa auf der Berliner Love-Parade zu bewundern war. Beinahe überflüssig ist es, an die populärsten Beispiele zu erinnern: An die androgyne Selbstinszenierung eines Michael Jacksons, für die das chirurgische Messer herhalten mußte; oder an die vielen provokanten Gesichter einer Madonna, die von der Sozialwissenschaftlerin Irmgard Schultz als personifizierte Dekonstruktion weiblicher Schönheitsidole (etwa der biblischen Madonna), als mit Weiblichkeitsklischees spielende "Postmodern Goddess" (man beachte die religiösen Konnotationen) gesehen wird und die von dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Lange als Inbegriff des postmodernen Gesamtkunstwerkes, das sein "Gemacht-Sein" nicht mehr verbirgt, gefeiert wird.

Die These, daß der Körper im Medienzeitalter verdrängt werde, hat sich als zu einseitig erwiesen. Es mag zwar richtig sein, daß die vernetzten Medienwelten die menschlichen Körper an den Rand drängen, doch hat sich gleichsam dialektisch - wie man früher zu sagen pflegte -, möglicherweise als Gegenreaktion, in den letzten Jahren ein Körperkult von ungeahntem Ausmaß entwickelt. Wir erfahren erst aus den Massenmedien vom anderen Körper. Wir erfahren erst aus den Massenmedien, daß man wie Madonna oder Michael Jackson aussehen kann. Es liegt ja gerade in der Struktur der Massenmedien, daß in erster Linie das Außergewöhnliche, Spektakuläre und Abseitige Nachrichtenwert besitzt - zumal dies hohe Einschaltquoten garantiert. Dabei suggeriert dieses mediale "andere", das unserem Alltag entgegengesetzt ist, ein hohes Maß an Authentizität. Michael Jackson hat sich wirklich in ein anderes Wesen verwandelt, jeder kann es sehen. Wenn Klaar van der Lippe vom jenseitigen Charakter der Medien spricht, scheint aber hier genau der Unterschied zu liegen: Das Jenseits der Medien läßt sich schon hic et nunc erfahren. Das Jenseits ist machbar.

Vermutlich geht es dabei überhaupt nicht mehr um Repräsentation, also nicht mehr um die naive Nachahmung eines Idols. Die Medien zeigen uns, daß es andere Körper gibt, wir sind aber frei, wie wir im Hinblick darauf die ästhetik unseres Körpers realisieren. Es geht also weniger darum, etwas spezifisch anderes zu sein, als vielmehr darum, überhaupt anders zu sein - als "Art Kult seiner selbst" (Baudelaire). Auch Ulrich Beck beobachtet eine zunehmende Individualisierung der Gestaltung des "Gesamkunstwerks Ich": "An die Stelle der objektiven Moral tritt der lebensästhetische Imperativ: Du sollst dein Leben nach einmaligen, nur für dich geltenden Maßstäben einrichten - oder du wirst in der Hölle des Spießertums hier auf Erden schmoren." Diese Individualisierung der Lebensentwürfe und die Pluralisierung des eigenen Lebensentwurfs ist sicherlich nicht zuletzt durch die neuen Medien bedingt, die durch ihre gleichsam unendlichen Informationskapazitäten eine Kulturpraxis wie die des "Zappings" oder "Surfens" hervorgebracht haben. Und vielleicht sind somit jene Körperinszenierungen am interessantesten, die ihre "Gemachtheit" zur Schau stellen, die anders als die chirurgische Geschlechtsumwandlung widerrufen werden können; der Transvestit, der aufgrund der Perfektion seiner Modifikation nicht mehr als Transvestit erkennbar ist, ist freilich ein langweiliger Transvestit.

Während früher Androgynität allenfalls ein unerreichbares Ideal im platonischen Himmel war, geht man heute in die Kosmetikabteilung des Kaufhauses. Daß man sein Geschlecht wählen kann, haben wir auch erst aus den Medien erfahren. Ganze Fernsehreihen berichten über Travestie und Geschlechtsumwandlung, wobei freilich häufig beides undifferenziert in einen Topf geworfen wird. Wie auch immer, "drag queens" und "drag kings" - einst Außenseiter der Gesellschaft - werden immer mehr zu Idolen. Daß der Travestiekünstler "Mary" Werbung für Marmelade machte, scheint Indiz für die Popularisierung des Androgynen zu sein. Indes manifestieren sich auch in der Alltagskleidung schon seit längerem Tendenzen zur Entschärfung des Gegensatzes zwischen den Geschlechtern. Prototyp des androgynen Typus ist freilich der durch die Großstadt flanierende "Dandy", der schon von Charles Baudelaire verkörpert wurde und auch in der frühen Avantgarde dieses Jahrhunderts zum Signum der Künstlerexistenz wurde.

Der Körper ist zwar schon immer Bedeutungsträger, schon immer codiert - wie man spätestens seit Roland Barthes "Die Sprache der Mode" weiß; dennoch war der abendländische Körper über zwei Jahrtausende lang dem Postulat der Natürlichkeit unterworfen. In archaischen Gesellschaften diente - wie Michel Thévoz in seinem Buch "Der bemalte Körper" darstellt - die wilde Körperbemalung nicht nur der Markierung von sozialen Rollen, sondern auch der Definition eines kulturellen Raums, der von der Natur abgegrenzt wird. In einem gewissen Sinne ist das wilde, schrille und auffällige Schminken also "natürlicher" als das Nichtschminken: Es tritt nämlich genau dort auf, wo der Mensch noch ständig den bedrohlichen Naturgewalten ausgesetzt ist und wo er sich durch kulturelle Praktiken vor diesen zu schützen versucht. Um die ständig präsente wilde Natur zu beschwören, muß man mit ihr in Kontakt treten und zu diesem Zwecke mit ihr gleich und sich selbst anders werden.

Seit der griechischen Antike ist der abendländische Körper dem Diktum der Natürlichkeit unterworfen. Bei dieser Natürlichkeit handelt es sich freilich um eine projizierte Natürlichkeit, da diese gerade durch Übung, Athletik, Stählung und Pflege erreicht wird. Das Natürliche ist das "Reine", das Hygienische und nicht etwa der mit Fäkalien verschmutzte Körper (wenngleich zahlreiche Schönheitsmittelchen auf der Basis von Fäkalien gewonnen wurden, was Dominique Laporte in "Eine gelehrte Geschichte der Scheiße" als eine Art re-entry des verdrängten Fäkalischen ansieht). Sinnbild des antiken Begriffes von "Schönheit" ist die idealisierte Marmorstatue. Der Mensch ist nunmehr das Maß aller Dinge, und er beherrscht die Natur, die nicht mehr das völlig "andere" ist. Der Mensch wird im Kult der Natürlichkeit selbst zur idealisierten Natur. Im Christentum ist der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen - und das darf nicht verfremdet werden. Die Körperfeindlichkeit des Christentums ist bekannt, sie betrifft nicht nur die Sexualmoral, sondern auch die Körperbeschriftung. Moses und später auch die Kirche auf dem Konzil von 787 verbieten das Tätowieren. Paulus polemisiert gegen die jüdische Beschneidung als Äußerlichkeit. Das Christentum beschriftet den Menschen effizienter, indem es Gottes Gewalt in den Geist und nicht mehr in die Körper der Gläubigen (nur noch in die der Ungläubigen) einschreibt: "Make-up your mind!" Die Verurteilung des "unnatürlich" beschrifteten, des "verschandelten" Körpers läßt sich an moralisierenden Reden über das Mittelalter bis heute nachweisen. Die wilden Körperbemalungen wurden in der westlichen Zivilisation von weiten Teilen der Bevölkerung lange Zeit als Manifestationen des Schreckens empfunden, als direkt, häßlich, sinnlich und unrein zugleich. Michel Thévoz schreibt: "Unsere Angst vor dem bemalten Gesicht entspringt einer inneren Zwiespältigkeit: Einerseits ist es uns sehr nahe, denn es gehört zu einem Wesen unserer Art, andrerseits aber ist es weit entfernt, denn das, was wir als wesentliches physiognomisches Attribut der menschlichen Person zu erkennen gelernt haben, ist völlig unkenntlich."

Das europäische Schminken, das charakteristischerweise immer mehr den Frauen überlassen bleibt, die noch den Hort der kontrollierten Erotik bilden, muß somit als ehrfürchtige Bemalung des göttlichen Werks gesehen werden. Das Schminken stellt allenfalls eine Retuschierung des menschlichen Körpers dar, der durch menschliche Schuld fehlerhaft geworden ist und der nun durch einige Korrekturen wieder in den Zustand des idealen Körpers überführt werden soll: Der Mund wird auf den Mund geschminkt, die Augen auf die Augen. Verpönt ist dagegen die wilde, "unnaturalistische" Bemalung. Michel Thévoz schreibt: "Die Frau muß, will sie anständig sein, ihre Schminke durch das Schminken verbergen." Nur noch in einigen Reservaten wird die wilde Körperbemalung im institutionalisierten Rahmen noch praktiziert, etwa im Zirkus, auf dem Theater und während des Karnevals. Die extreme Körperzeichnung, etwa auch durch Folter, bleibt Straftätern vorbehalten, sie markiert den gesellschaftlichen Ausschluß. So findet sich etwa in Frankreich die eintätowierte Lilienblüte auf der Schulter von Straftätern, im 18. Jahrhundert wird sie durch Buchstaben ersetzt: V (=voleur) für Diebe, GAL für Galeerensträflinge, M (=mendiant) für Bettler. Auch in Irrenhäusern ist das wilde Schminken gängige Praxis. Seit dem 18. Jahrhundert wird die radikale Körperzeichnung immer mehr zum Symbol des freiwilligen Ausschlusses aus der Gesellschaft, zum Symbol der Ablehnung sozialer Normen. Kriminelle und Seemänner tätowieren sich freiwillig. Prostituierte schminken sich auf eine Weise, die sich verrät und nicht versteckt (wie Charles Baudelaire deutlich gemacht hat), auch die Waffe des frühen Feminismus der 20er Jahre ist das übersteigerte Make-up, und in den 70er Jahren fordern die Punks, die ihre Haare in den grellsten Tönen färben und alle möglichen Körperteile mit Sicherheitsnadeln durchstechen, "Anarchy in the U.K.". Vivienne Westwood hat mittlerweile Elemente der Punkmode längst zur Haute Couture erhoben.

Zu verzeichnen ist gegenwärtig auch eine neue Lust am Schmerz. Insbesondere Tätowierungen und Brandings sind schmerzhaft. Wenngleich Piercing teilweise unter örtlicher Betäubung durchgeführt wird, halten die Schmerzen zumindest an empfindlichen Stellen noch wochenlang an. Und für manchen Betrachter werden Piercings immer die Konnotation "Schmerz" aufrecht erhalten. Zu verzeichnen ist in der Tat eine ungeheure Popularisierung des Schmerzerlebens, die noch vor einiger Zeit undenkbar gewesen wäre. Selbstaggression galt allenfalls als Praxis nervenschwacher Pubertierender, von psychisch Kranken und einer Handvoll bizarrer Masochisten. Vielleicht ist die Wiederkehr des Schmerzes darin begründet, daß nicht mehr das stellvertretende Leiden akzeptiert wird. Die christliche Sublimierung des Begehrens nach Schmerz, die darin bestand, daß Jesus für uns ans Kreuz genagelt wurde, funktioniert nicht mehr. Die Medien sagen uns, wir können selbst zum "Heiligen", zum Star werden. Wie die Märtyrer und Mystiker möchte man selbst den Schmerz des Durchbohrens und Durchstechens fühlen.

Die Veränderung des eigenen Körpers markiert den Eintritt in eine andere, fiktionale Welt. Dies zeigt sich in prominenter Weise anläßlich Pauline Réages pornographischem Roman "Geschichte der O" (den auch Literaturwissenschaftler lesen dürfen, seit Susan Sontag ihn als anspruchsvolle pornographische Literatur deklariert hat). Hier ist immer wieder das Schminken, die Bemalung der Geschlechtsorgane, das Anlegen von sadistischem Schmuck ein Übergangsritual, das "O", wie die entpersonalisierte Protagonistin heißt, der als langweilig erfahrenen alltäglichen Welt entreißt und in die andere, als Lust wahrgenommene Welt des de Sadeschen Schreckens in einem mittelalterlich anmutenden Schloß überführt. Während in diesem Roman die Verstümmelung der Geschlechtsorgane zum Anbringen von Ringen noch als Mischung von unsagbarer Grausamkeit und Lust erfahren wird, scheint sich - wenn man unseren Talkshows glauben darf - die Praxis, Geschlechtsteile zu piercen, längst als weitverbreitete Modeerscheinung etabliert zu haben.

Schon immer ist in archaischen Kulturen die Kommunikation mit dem "anderen", mit den Göttern durch die rituelle Bemalung und Verstümmelung des Körpers charakterisiert. Die wilde Bemalung soll den Menschen den göttlichen Mächten gleichmachen, die in traditionellen Gesellschaften als andere, dem Menschen ungleiche Wesen gedacht werden, während im Christentum der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen ist. Die rituellen Bemalungen und Verstümmelungen sowie die Kommunikation mit den Göttern dienen zugleich häufig der Markierung eines Übergangs von einem sozialen Status in den anderen. Solche Übergangsrituale symbolisieren den Übergang vom Kind zum Erwachsenen, vom Nicht-Verheirateten zum Verheirateten, von der Krankheit zur Gesundheit, vom Leben zum Tod usw. In traditionellen Gesellschaften sind diese Übergangsrituale immer mit Modifikationen der Körper der Initianden verbunden: Abschneiden der Haare, Einschmieren mit Schlamm, Tätowierung und Bemalung, Einbrennen von Narbenmustern, Ausschlagen von Zähnen, Hungern und Völlerei usw. Die soziale Identität wird also wesentlich über den Körper definiert. Der Initiand begibt sich während solcher Übergangsrituale häufig außerhalb von Raum und Zeit, indem er sich über Wochen an besonderen, heiligen Orten aufhält, die vom alltäglichen Raum abgetrennt sind. Oftmals ist er dabei vollkommen nackt. Bevor also der Körper neu beschriftet wird, überführt man ihn metaphorisch in einen Zustand der Indifferenz und Unbestimmtheit, weshalb dieser Zwischen-Zustand häufig mit Metaphern des Todes beschrieben wird.

In diesen Übergangsritualen ist (etwa neben Drogen) auch der Schmerz ein Mittel, den Initianden aus der alten Realität hinauszukatapultieren. Gemäß Karl Heinz Bohrer stellt der Schmerz ein Moment der "Plötzlichkeit" dar, in dem Raum- und Zeitkategorien ihre Gültigkeit verlieren. Auf metaphorische Weise erscheint im Schmerz der Tod, die alte Identität des Initianden stirbt ab. Gleichzeitig macht die Intensität des Schmerzes den neuen sozialen Zustand real: Das Messer der Beschneidung, das glühende Eisen, die Nadel der Tätowierung sollen die "andere Welt", die neue soziale Rolle real-körperlich fühlbar werden lassen. Auch dem gefolterten "Verbrecher" des Mittelalters soll seine Wandlung zum Guten ins Fleisch eingeschrieben werden, so daß sie für ihn völlig real wird. "Der Schmerz ist das einzig Reale", schrieb schon Franz Kafka (unerläßlich ist es, hier auf Kafkas "Strafkolonie" zu verweisen). Nur in dieser Paradoxie - als Realität des vormalig Anderen - wird das Begehren nach Schmerz verständlich.

Auch heute ist die Konstituierung einer neuen Identität häufig mit schmerzvollem Erleben verbunden, das Neue muß vollkommen körperlich präsent sein. Um die neue Identität zu konstituieren, begibt man sich immer noch an "heilige Orte", an denen rituelle Handlungen praktiziert werden: ins Krankenhaus zur Schönheitsoperation, in Tatoo- und Piercing-Studios, denen immer noch ein zweideutiger, zwielichtiger Ruf zu eigen ist, auf die Schönheitsfarm, wo asketisches Fasten und Schlammrituale initiiert werden. Die Konstituierung einer neuen Identität wird körperlich vollzogen und ist in ihren radikalen Formen mit Schmerz verbunden. Im Zeitalter der Medien, in denen zumindest eine Entschärfung des Gegensatzes von Realität und Fiktion zu verzeichnen ist, garantiert die schmerzvolle Bestätigung einer Identität deren Wirklichkeit.

Es wäre freilich naiv, das Zeitalter der Massenmedien einfach als Wiederkehr des Archaischen zu betrachten. Der grundlegende Unterschied scheint in der erwähnten Pluralisierung von Identitäten zu liegen; soziale Identitäten werden immer weniger zwanghaft eingeschrieben. Niemand muß sich operieren lassen; es existieren Wahlmöglichkeiten, die eigene Identität zu definieren. Dennoch wird diese Identität heute wieder in höherem Maße körperlich erfahren: Um die Fiktionen der Medien wirklich zu erleben, muß der Körper verändert, neu beschriftet werden. Unter Schmerzen sollst du dein neues Ich gebären.



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