Kafka / Raumstruktur / Grenze / Grenzüberschreitung / stehender Sturmlauf


Cornelia Voss:

Kafkas "stehender Sturmlauf" im Spannungsfeld zur Wunschvorstellung der Transgression

 

Abstract: Der Vorschlag, auf welche Weise sich den Erzählungen Kafkas zu nähern sei, lautet hier, den literarischen Text als Kunstwerk anzusehen, das eine "Übersetzung” einer subjektiv empfundenen Wirklichkeit bedeutet. Grundannahme ist, daß textuell verschiedene, konträre Weltbilder versinnbildlichende Räume aufgerufen werden, die über bestimmte topologische, mit semantischen Gegensätzen korrelierende Oppositionen verfügen. Vor diesem Hintergrund wird das räumliche Modell zum organisierenden Element der Erzählung.

Eine besondere Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang der Grenze als wichtigstem topologischen Merkmal des literarischen Textes zu. Sie bricht einen Gesamtraum in zwei disjunkte Teilräume, die zueinander in binärer Opposition stehen. Diese Teilräume können Innen- und Außenraum sein, wobei "innen” von negativen Inhalten wie Enge, Dunkelheit oder Angst charakterisiert sein kann und "außen” mit Eigenschaften der Weite, Helle oder Freiheit positiv besetzt ist. Diese einen Raum durchtrennende Grenze ist gewöhnlich nicht überschreitbar. Widersetzt sich ihr dennoch eine Figur, liegt eine Grenzüberschreitung vor. Die Person wird dadurch zu einem Handlungsträger und Helden. Eine Transgression dieser Art bedeutet ein Ereignis, weil durch die sich ereignende Aktion ein bestehendes Gefüge in Unordnung gerät. Diese Theorie stellt die Hintergrundfolie bei dem Versuch einer Interpretation von Erzählungen Kafkas dar.
Der zweite Ausgangspunkt einer diskursiven Betrachtung basiert auf Kafkas Tagebucheintragung des "stehenden Sturmlaufes” (20.11.1911), dessen Bedeutung als "stehendes Marschieren” später (23.01.1922) wiederaufgenommen wird. Diese Begriffspaare sind Oxymora: Sie setzen zwei sich gegenseitig ausschließende Begriffsinhalte auf engstem Raum zu einer Einheit. Diese "stehenden Bewegungen” werden als Strukturmerkmal der Erzählungen Kafkas angesehen. Ihnen kommt eine zentrale und symptomatische Bedeutung für den Aktionsradius des jeweiligen Protagonisten eines literarischen Textes zu. Die Struktur dieser Oxymora ist die der einer Endlosschleife gleichenden dilemmatischen Bewegung ohne Ursprung und ohne erreichbares Ziel.
Die Betrachtung ausgewählter Paradigmentexte soll zeigen, daß die anfängliche zielstrebige Vorwärtsbewegung des Sturmlaufes, das zielorientierte Vorgehen des Protagonisten und eine damit einhergehende forsche Dynamik des Erzählens auf der syntagmatischen Achse rückläufig zu werden beginnt, um schließlich in ein totales Verharren und in Stagnation umzukippen, ohne daß eine erstrebte Veränderung der Ausgangssituation erreicht wäre. Der Protagonist einer jeden Erzählung fristet eine labyrinthische Existenz, in der es weder Vergangenheit noch Zukunft gibt, sondern nur das quälende Jetzt. Eine Entgrenzung bei Kafka scheint unmöglich. Es finden in dem überwiegenden Teil seiner Erzählungen keine Ereignisse statt, weil eine bestehende Ordnung unberührt bleibt.

Die Unmöglichkeit einer Befreiung aus dem "stehenden Sturmlauf” des jeweiligen Protagonisten soll anhand der Erzählungen "Eine kaiserliche Botschaft”, "Vor dem Gesetz”, "Der Aufbruch”, "Gibs auf!”, "Der Kreisel” und "Die Verwandlung” nachgewiesen werden. Es wird vorausgesetzt, daß der "stehende Sturmlauf” jenem negativ semantisierten Teilraum angehört und der Protagonist in den ihm Erlösung und Glück bedeutenden angrenzenden Raum gelangen möchte. Dieses Ziel kann nur mittels der Durchbrechung des "stehenden Sturmlaufes” erfolgen: Eine Grenzüberschreitung hätte eine befreiende Wirkung und führte bereits auf lexikalischer Ebene zu einer Beruhigung durch die Aufhebung der in sich widersprüchlichen, polaren Begriffe "stehender Sturmlauf”.
Es gibt einige wenige Erzählungen, in denen eben diese Bewegung durchbrochen wird - in ihnen gelingt es dem Protagonisten, einen negativ semantisierten Raum zu verlassen. Die dadurch entstehende Transgression bringt jedoch dem Handelnden nicht Freiheit und Glück, sondern Tod. Als Beispiel dient die Erzählung "Das Urteil”.

Eine kaiserliche Botschaft:
Der Kaiser liegt im Sterben und hinterläßt "Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen Untertanen”, geflüchtet in die "fernste Ferne”, eine Botschaft. Diese wird einem Boten ins Ohr geflüstert, der sie ob ihrer Wichtigkeit bestätigen muß. Eine Menschenmenge, jene "Zuschauerschaft” des königlichen Todes, wohnt diesem Vorgang bei, "auf den weit und hoch sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen der Gesellschaft”; ihre Blicke erfassen, wie der König "den Boten ab[..]fertigt”, weil "alle hindernden Wände […] niedergebrochen” sind. Der Bote ist "ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann”, der "wie kein anderer” "leicht vorwärts kommt” und sich mühelos "Bahn durch die Menge” verschafft. Beste Ausgangsbedingungen - ein dynamischer, schneller Bote, die offenen Freitreppen und niedergebrochenen Wände, die Eindeutigkeit der Botschaft, die Kenntnis ihres Empfängers - schaffen eine hoffnungsvolle, Erfolg versprechende Ausgangslage.
"Aber die Menge ist groß, ihre Wohnstätten nehmen kein Ende”: Die erste adversative Konjunktion "aber” zeigt plötzlich unerwartete Probleme auf: Die Menschenmenge, durch die sich der Bote den Weg bahnen muß, wird zum Hindernis. Die Situation beginnt zu kippen. Im Konjunktiv wird sodann der Notwendigkeit eines "freien Feldes” Ausdruck verliehen, das das Gelingen des Auftrages ermöglichen könnte: "Öffnete sich freies Feld, wie würde er [der Bote] fliegen und bald wohl hörtest Du das herrliche Schlagen seiner Fäuste an Deiner Tür”. Nur in der Wunschvorstellung, im Irrealis kann der Empfänger Kenntnis von der Botschaft erlangen, nur in der Fiktion wird jene Tür erreicht, deren Überschreitung dem Empfänger seinen "Traum” erfüllen würde. Aber selbst im Traum wird nur eine Schwellensituation erreicht, die Handlung ebbt mit dem "Schlagen” an der Tür und damit einen Schritt vor der Grenzüberschreitung ab - nur die unmittelbar bevorstehende Übermittlung, nicht aber der Inhalt der Botschaft wird kundgetan. Der positiv semantisierte Traum ist infiziert von der absoluten Unmöglichkeit der Grenzüberschreitung in der Realität, die latent die Wunschvorstellung umgibt - selbst im Irrealis kann einer wahren Transgression nicht Sprachgestalt verliehen werden.
Die nimmer endenden, vergeblichen Bemühungen des Boten zeigen seine Sisyphusarbeit, "wie nutzlos […] er sich ab[müht]”: Er jagt durch des Kaisers Reich und sieht sich schachtelartig ineinander verkeilten Hindernissen gegenüber: "Gemächer des innersten Palastes”, durch die er sich "zwängt” - gelänge ihm die Bewältigung jener Instanzen, "nichts wäre gewonnen; die Treppen hinab müßte er sich kämpfen; und gelänge ihm dies, nichts wäre gewonnen; die Höfe wären zu durchmessen; und nach den Höfen der zweite umschließende Palast; und wieder Treppen und Höfe; und wieder ein Palast […]”. Die Erreichung eines Zwischenziels ist bedeutungslos, weil das Endziel - "die Residenzstadt, […], jene Mitte der Welt, hochgeschüttet voll ihres Bodensatzes” "niemals, niemals” von "niemand[em]” erreicht werden kann. Die Raumdimensionen, die die Welt strukturieren, sind labyrinthisch um jenes im Wortsinne "hohe Ziel” der Residenzstadt konstruiert, der als "Mitte der Welt”, als deren Dreh- und Angelpunkt eine tragende Bedeutung zukommt. Erreichte dieses Zentrum die Botschaft, so wäre alles gewonnen. Jedoch windet sich der Bote um diese aufgetürmte, unnahbare und uneinnehmbare Residenz unten an ihrem Fuße im "stehenden Sturmlauf”, gefangen in den labyrinthischen Wegen der menschlichen Existenz: Selbst wenn der Unermüdliche all jene Zwischenetappen, all jene unbedeutenden Grenzüberschreitungen auf horizontaler Ebene durchmessen hätte, wäre sein Scheitern angesichts der sich vor ihm auftürmenden letzten Instanz unabdinglich - "niemand dringt hier durch”. Die unüberwindbare Opposition "oben - unten” ist von umfassender Bedeutung.
Die dilemmatische Raumdimension zeichnet sowohl auf horizontaler als auch auf vertikaler Ebene die tragische menschliche Situation nach. Sie korrespondiert mit der unendlichen Zeitspanne: Das Durchmessen der ungeheuren Räume spielt sich "durch Jahrtausende” hindurch ab. Das irdische Labyrinth, die schlangenartigen Wege, die Abwegen gleichen, da sie statt zum ersehnten Ziel ins Nichts führen, stehen zu der himmlischen, allmächtigen Residenzstadt in einem unvereinbaren Gegensatz, der für die Ewigkeit irreversibel festgeschrieben ist. Diese mit menschlichen Mitteln nicht annähernd beherrschbaren Raum- und Zeitdimensionen unterstreichen die Notwendigkeit des Scheiterns jeglicher Handlungen als unabdingbaren Bestandteil des Lebensprogramms.

Vor dem Gesetz:
Einer ähnlichen labyrinthartigen Verschachtelung von Grenzen und Hindernissen steht jener "Mann von Lande” gegenüber, der Eintritt zum Gesetz begehrt. Türen verhindern die Realisierung seines Vorhabens. Er trifft auf den Türhüter als erstes Hindernis - seine Präsenz und seine Worte: "Wenn es dich so lockt, versuche es [Eintritt zum Gesetz zu bekommen] doch, trotz meines Verbotes hineinzugehn. Merke aber: Ich bin mächtig. Und ich bin nur der unterste Türhüter. Von Saal zu Saal stehn aber Türhüter, einer mächtiger als der andere”, lassen den Gesetzsuchenden im Angesicht seines Ziels innehalten. Das Anliegen des Mannes ist prinzipiell erfüllbar, "jetzt aber nicht” durchsetzbar, wie der Türhüter ihm mitteilt. Der Gesetzsuchende wartet, bis zu seinem Tod in dieser Situation verharrend.
Die mit steigender Türzahl proportional wachsende Macht, die die jeweiligen Türhüter nach Aussage des ersten Wächters haben, bringt den Mann vom Lande dazu, sein gesamtes Leben vor der ersten Tür zu fristen. Sein Ziel steht ihm klar vor Augen, doch gelingt es ihm nicht, jene Schwelle, die ihm Recht, Kenntnis und gesellschaftliche Integration ermöglichte, zu überschreiten. Seine Bewegung ebbt zum Stillstand vor der Tür ab, obgleich sein gesamter Identitätsentwurf auf eben diese Grenzüberschreitung zugeschnitten ist.

Der Aufbruch:
Am Anfang dieser kurzen Erzählung steht der Protagonist, der seinem Diener "befahl [s]ein Pferd aus dem Stall zu holen”. Der Untergebene versteht ihn nicht, so daß der Befehlende selbst in den Stall geht, das Pferd sattelt und besteigt - der Ausritt kann beginnen.
Der Reiter ist zunächst aktiv und zupackend. Er reitet los, wird jedoch von seinem Diener "beim Tore” mit der Frage aufgehalten: "Wohin reitest du, Herr?”. Die Antwort auf diese Frage erstaunt: "Ich weiß es nicht, nur weg von hier, nur weg von hier. Immerfort weg von hier, nur so kann ich mein Ziel erreichen”.
Die Beschreibung seines Ziels zeugt von seiner Unwissenheit über eben diesen Bestimmungsort. Der Akzent wird auf den Weg zum Ziel statt auf das Ziel selbst gelegt. Dies ist von so großer Bedeutung für den Protagonisten, daß er die Antwort ein weiteres Mal wiederholt: "'Weg-von-hier', das ist mein Ziel”. Weg und Ziel sind für den Reisenden identisch; im Vordergrund steht allein das Begehren, jenseits der Stadttore zu gelangen. Eine Reise, die ihren Ursprung in einem solchen Wunsch findet, ist eine "wahrhaft ungeheure”.
Aber bereits der Weg zum Ziel ist für den Reiter nicht begehbar: Er wird kurz vor dem Stadttore von seinem Diener eingeholt. Die starke Dynamik, die ihren Ausdruck fand in der Zielstrebigkeit des Fortstrebenden, sein Pferd zu satteln, um auf dessen Rücken den Reiseweg zu bestreiten, bricht im wahrsten Sinne ante portas in einem Nichts der Bewegungslosigkeit ab; der Wunsch und die Hoffnung nach "Aufbruch”, nach Ausbruch aus einer geschlossenen, von Stadtmauern begrenzten Räumlichkeit wird vor dem Tor zunichte gemacht. Die Grenze kann nicht überschritten werden.

Gibs auf!:
In dieser Erzählung wird in vier Sätzen der Gang des Protagonisten am frühen Morgen zum Bahnhof beschrieben. Eile, Hektik und Dynamik - der Erzähler glaubt sich verspätet zu haben- gipfeln in seiner plötzlichen Unkenntnis über den Weg, der zum Bahnhof führt. Einen zufällig anwesenden Schutzmann scheint der Himmel geschickt zu haben - doch von ihm empfängt der Reisende nur die Information über die Unmöglichkeit, den Weg zu erfahren.
Angesichts dieser dilemmatischen und tragischen Situation - das Ziel ist bestimmt, der Weg aber unbekannt und daher nicht begehbar - muß die zielstrebige Bewegung des aus der Stadt fortstrebenden Mannes in Verharren umkippen und damit die ihn kennzeichnende Bewegung des Sturmlaufes brüsk zum Stehen gebracht werden.

Der Kreisel:
Ein Philosoph konzentriert seine gesamten Überlegungen auf die Bewegung eines Kinderspielzeugs, einen Kreisel. In dieser Erzählung wird kein zweiter Raum aufgerufen, im Mittelpunkt steht der Kreisel: Der Philosoph ist ausschließlich auf ihn fixiert - der "Kreisel in Drehung, […] gefangen” in seiner Bewegung, macht ihn "glücklich”. Er verspricht sich von der Erkenntnis dieses Spielzeugs Aufschluß über die Weltbeschaffenheit: Der Kreis steht als pars pro toto für die Antwort auf die Frage nach der Beschaffenheit der Welt - damit erhält die Frage eine metaphysische Dimension.
Der Schwung des Kreisels symbolisiert in höchster Vollendung das Bild des stehenden Sturmlaufes: Das Spielzeug kreist und dreht sich um sich selbst, im trüben Wirbel, ohne ein zielgerichtetes Vorwärtskommen zu verfolgen. Ein Ausbruch aus seinen sich windenden Endlosschleifen ist unmöglich.
Das Prinzip des Kreisels ist eine Bewegung ohne Ursprung und ohne Ziel, die einem in sich selbst beständig zurückkehrenden Zirkel ähnelt. Die Bewegungen scheinen nur um ihrer selbst willen zu erfolgen - ein sinnmachender Bewegungsablauf ist durch die Beschaffenheit des Spielzeugs von vornherein ausgeschlossen. Das Zusammentreffen von Statik und Dynamik, vom Schein der Bewegung und vom Sein der Stagnation wird durch das Bild des Kreisels wiedergegeben: Der Kreisel dreht sich und kommt nicht vom Fleck - angetrieben wird er immer und immer wieder von Kindern zu deren Vergnügen. So wie der Kreisel unter ihren Händen Endlosschleifen schwingt, "taumelt” auch der Mensch "wie ein Kreisel unter einer ungeschickten Peitsche”. Die conditio hominis, so muß der Philosoph am Ende seiner Betrachtungen erkennen, ist identisch mit dem Bewegungsablauf des Kreisels aufgrund seiner in sich gefangenen, bis zum Schwindel zirkulierenden und sich nie zu befreien und zu entäußern vermögenden stehenden Bewegungen.

Die Verwandlung:
Gleich dem Kreisel zieht auch der in seinem Zimmer gefangene, zum Käfer verwandelte handlungsunfähige Gregor Samsa mechanisch und ruhelos Kreise um eine leere Mitte. Er dreht und bewegt sich räumlich um sich selbst - und kommt nicht von der Stelle. Dieser "stehende Sturmlauf” spiegelt sich auch zeitlich wider: Wie eine aufgezogene Uhr, jener "Weckuhr”, die unaufhörlich in seinem Zimmer tickt, kreist er monoton und andauernd um die eigene Achse. Leere Temporalität und räumliche Rotation kennzeichnen seinen Bewegungsablauf. Der runde Apfel, den sein Vater nach ihm geworfen hatte und der in seinem Körper stecken geblieben war, dort langsam faulend, gebietet den Endlosschleifen, die Gregor durch sein Zimmer zog, Einhalt. Das Obst stoppt im Käfer die kreisende Bewegung, die der runden Frucht selbst eigen ist und führt sie dadurch ad absurdum.

Für diese Paradigmenerzählungen des stehenden Sturmlaufes gilt, daß das Ereignishafte an ihnen ihre Ereignislosigkeit ist - die Handlung besteht in dem Nicht-Eintreffen einer - erwarteten - Aktion und damit in der Negation. Der Protagonist kann nicht zum grenzüberschreitenden, aktiven Helden werden, sondern er entblößt sich als handlungsunfähiger, in der Bewegung des Nichts verharrender Anti-Held. Sein ganzer Identitätsentwurf formiert sich um die räumliche Grenze, in der Regel versinnbildlicht durch eine Tür oder ein Tor, um die herum der "stehende Sturmlauf” tosend tanzt, um dann abrupt im Vakuum des Nichts zum Stehen zu kommen. In diesem Zusammenhang kann man von einer "Metaphysik der Tür” bei Kafka sprechen, um die herum sich alle eitlen, vergeblichen Lebensanstrengungen und menschlichen Aktivitäten bündeln.

Das Urteil:
Zu Beginn der Erzählung "Das Urteil” wird Georg Bendemann als Bewohner seines Eltern- hauses eingeführt, der im Begriff steht, einem im fernen Rußland lebenden Jugendfreund seine bevorstehende Vermählung mit Fräulein Frieda Brandenfeld brieflich mitzuteilen. Bendemann verläßt sein Zimmer, um seinen Vater über die Absicht dieses Briefes zu unterrichten. Es findet eine Grenzüberschreitung statt, die sich jedoch innerhalb der Wände seines Elternhauses ereignet: Sein Weg führt ihn von seinem hellen Zimmer in das dunkle Gemach des Vaters, das beherrscht ist vom Andenken an die tote Mutter. Zwei Lebensabschnitte treffen aufeinander: Der Vater, der als Witwer von den Bindungen der Ehe frei geworden ist und der Sohn, der im Begriff steht, sein Junggesellentum durch Heirat aufzugeben.
Der Dialog mit dem Vater nimmt eine unerwartete Wendung, die in der väterlichen Verurteilung des Sohnes ihren Höhepunkt findet. Das den überwiegenden Teil der Erzählungen Kafkas kennzeichnende tragische Nichtwissen der Protagonisten wird im "Urteil” aufgehoben: Explizit führt der Vater seinem Sohn dessen Schuld vor Augen: "Jetzt weißt du auch, was es noch außer dir gab, bisher wußtest du nur von dir! ” "Hier wird ein klarer Fall menschlicher Schuld statuiert. Georgs Verbrechen bestand in seiner Egozentrik: Selbstsucht führte ihn den Pfad zu dieser Katastrophe: […] seine Liebschaft mit Frieda, der Verlust seiner Reinheit”. Der Vater fährt fort: "Ein unschuldiges Kind warst du eigentlich, aber noch eigentlicher warst du ein teuflischer Mensch! - Und darum wisse: Ich verurteile dich jetzt zum Tode des Ertrinkens!”
. Willenlos führt der Sohn das Verdikt des Vaters aus. Er fühlt sich "aus dem Zimmer gejagt”. Georg stürzt im Sturmlauf hinaus in das pulsierende Leben, auf eine Brücke: "Aus dem Tor sprang er, über die Fahrbahn zum Wasser trieb es ihn. Schon hielt er das Geländer fest, wie ein Hungriger die Nahrung” und begeht, mit einem Liebesbekenntnis für seine Eltern auf den Lippen, Selbstmord und führt damit zugleich seine eigene Hinrichtung aus.
Bendemann schwingt sich über das Brückengeländer - diese Transgression ist absolut, gleich auf zweifache Weise wird er zum Verlassen des Lebensraumes bewegt: Zum einen verläßt er die Erdoberfläche, als er sich in die Fluten des Flusses stürzt, zum anderen entzieht er sich dem Leben durch den Tod. Hier kommt es zu einer wahren Grenzüberschreitung.
Das Geländer - Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits - kann überschritten werden, weil Georg von seiner Schuld erfährt, die er nicht hinterfragt, sondern bedingungslos annimmt. Aufgrund seines Wissens kann ein Ereignis, eine Handlung stattfinden - sie führt aber in die Negativität des Todes. Nur die Grenze, die in den Tod führt, kann überwunden werden, diese Todes-Grenze ist für Bendemann die "Nahrung”, an die er sich klammert.
In dem Moment seines Todes geht "über die Brücke ein geradezu unendlicher Verkehr”. Dieser Schlußsatz der Erzählung läßt sich aufgrund der Doppeldeutigkeit des Wortes "Verkehr” sexualmetaphorisch interpretieren: Bendemanns Tod ist konstitutiv für die Vermehrung seiner Mitmenschen, das göttliche Gebot der Prokreativität kann nur eingelöst werden durch sein Dahinscheiden. Sein Tod gleicht einem Erlösertod. Als Bendemann aus dem Elternhaus gejagt wird, trifft er auf die Bedienstete, "die im Begriffe war herauszugehen, um die Wohnung nach der Nacht aufzuräumen. 'Jesus!' rief sie […]” bei seinem Anblicke aus. Der Ausruf "Jesus” verdeutlicht die ursächliche Verbindung zwischen dem Tod des Sohnes für seinen Vater und der Bedeutung des Erlösertodes, der sein Dahinscheiden für die übrige Menschheit hat.

Die bisherigen Ausführungen erlauben die Schlußfolgerung, daß der "stehende Sturmlauf”, der Strukturmerkmal im Erzählwerk Franz Kafkas ist, nur durchbrochen werden kann, wenn die dann eintretende Grenzüberschreitung unmittelbar in den Tod führt. Eine Transgression hin zu positiv semantisierten Räumen ist unmöglich. Nur in der Negativität kann es zu einer Entgrenzung kommen, nur in Gestalt der Selbstzerstörung des Protagonisten kann eine Veränderung der Ausgangslage realisiert werden.

Ein Aphorismus Kafkas lautet: "Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg. Was wir Weg nennen, ist Zögern” (Tagebucheintragung vom 17.09.1920); an anderer Stelle heißt es: "Mein Leben ist das Zögern vor der Geburt”. Der Protagonist strebt in den angeführten Erzählungen ein Ziel an. Der Weg, der angetreten, aber fast nie vollendet wird, ist der des stehenden Sturmlaufes. Kommt es dennoch zur "Geburt” und damit zur Grenzüberschreitung, ist diese gleichbedeutend mit dem Tod. Stehender Sturmlauf oder Tod - dieses sind die beiden Antworten auf die Frage nach den Lebensmöglichkeiten des kafkaischen Menschen.



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