Kleist, Über das Marionettentheater, Die Marquise von O..., Thomas Mann, Neurologie, Bewegung, Dornauszieher, Parkinsonsche Krankheit


Dr. med. Felix Golch

Über das Eingehen ins Paradies bei Heinrich von Kleist auf neurophysiologischer Grundlage

Mit dem Blick eines Mediziners und eines Neurologen werden in diesem Aufsatz verschiedene Motiven der Literatur bei Kleist oder Thomas Mann, die die Bewegung von Figuren und die Steuerung dieser Bewegung betreffen, beleuchtet. Die neurologische Erklärung bestimmter motorischer Verhaltensmuster literarischer Figuren zeigt, wie genau bisweilen Literaten menschliches Verhalten beobachtet haben und wie sie im körperlichen Ausdruck psychische, aber auch soziale Voraussetzungen dieser Figuren beobachtbar gemacht haben.

Die Überschrift soll weder Erstaunen noch gar Heilserwartungen wecken. Der neuro-philologische Zusammenhang zwischen Heinrich von Kleist und der Neurologie ergibt sich ganz einfach: Kleist behandelt im Aufsatz über das „Marionettentheater“ Probleme von Bewegungsabläufen, die Störungen der Motorik sind aber Domäne der Neurologie.

Im „Marionettentheater“ wird am Beispiel des jungen Mannes, der vergeblich versucht, die Anmut in der Bewegung des Dornausziehers zu erreichen, gezeigt, wie verderblich der Einbruch einer Bewußtwerdung sein kann, dergestalt, daß der Betroffene bei seinen verzweifelten Versuchen die ihm ursprünglich eigene schöne motorische Vollkommenheit verliert: Desaströse Wirkung eines Spitzenprodukts der Entwicklung des Lebens auf unserem Planeten, des Bewußtseins.

Es gibt zwei motorische Systeme im menschlichen Gehirn. Zunächst das motorische Befehlszentrum, gelegen in der Großhirnrinde, der stolzen Entwicklungs-errungenschaft, die uns von den anderen Säugetieren unterscheidet. Über die von dort ausgehende Leitungsbahn, Pyramidenbahn genannt, werden die Willkür-Bewegungen, die bewußt intendierten Bewegungen gesteuert. Das zweite System heißt das extrapyramidale System, extra, außerhalb jenes ersten Systems, alles was nicht dazugehört, the rest of the motoric world. Es besteht aus einer Ansammlung von Nervenzellkernen, ist auf niedrigerer Entwicklungsstufe entstanden, fast möchte man sagen: Ein altes Modell. Es liegt in tiefen Schichten des Gehirns, wird von der mächtigen Großhirnrinde überwölbt. Von dort laufen Leitungen zu den Gliedmaßen sowohl direkt als auch indirekt über das extrapyramidale System.

Bei einer Erkrankung, die das extrapyramidale System befällt, der Parkinsonschen Erkrankung, zeigt sich, was es mit dem alten System auf sich hat: Salbengesicht, eingefrorene Mimik, überhaupt Verlust des Ausdrucksverhaltens, der Körpersprache, vorgebeugte starre Körperhaltung, kleinschrittiges roboterartiges Gangbild. Die Krankheit zerstört die personeneigene individuelle Motorik, das charakteristisch-nivellierende des Krankheitsbildes tritt hervor. Daß bei manchen Betroffenen ein Zwangsweinen oder Zwangslachen, ausgelöst bei inadäquaten beliebigen Gelegenheiten, hinzukommt, zeigt, daß im extrapyramidalen System Motorik und Gefühle, das affektive Ensemble mit einander verschaltet sind. James Parkinson, ein englischer Arzt, beschrieb 1817 erstmals das Krankheitsbild in seinem „Essay on the shaking palsy“. Kleist, gestorben 1811, kann den Aufsatz nicht gekannt haben. Der Tremor, das Zittern, von dem sich die Benennung „Schüttellähmung“ ableitet, bleibt hier außer Betracht.

Wir gehen in aller Regel ohne bewußte Kontrolle – automatisch. Die Gangstörung beim Parkinson beweist, daß die Automatik im extrapyramidalen System untergebracht ist. Das Gehen wird hier unter Abschaltung und Entlastung der Großhirnrinde – man braucht sie für höhere Aufgaben – automatisch gesteuert. Auf das Beispiel Kleists übertragen, hinge die extrapyramidalgesteuerte Motorik an der vom motorischen Zentrum der Großhirnrinde ausgehenden Leitungsbahn wie die Marionette an der Strippe, mit der nach Kleist der Spieler den Schwerpunkt der Marionette bewegt, dessen Bewegung dann alle Marionettenglieder folgen. Neben der Freistellung der Großhirnrinde hat die Automatik den Vorteil der Schnelligkeit. Der Bär im Marionettentheater ist kein ganz passendes Beispiel, aber wir sehen ihn als von Großhirnrinde nicht behelligt cito et velociter dem menschlichen Fechter, der seine Ausfälle plant, überlegen.

Jeder Mensch muß oder will im Laufe seines Lebens neue, ihm ungewohnte Bewegungsabläufe erlernen. Das geschieht zunächst unter bewußter Kontrolle und etwa beim Sport unter kundiger Anleitung und begeistert-hartnäckigem Üben. Im Zuge des Trainings werden Bewegungsmuster erlernt, bewußt. Allmählich werden sie in ein unbewußtes Funktionieren überführt, im extrapyramidalen System abgespeichert. Der junge Mann im Marionettentheater hat dabei schlechte Karten. Die ihm eigene seit der Kindheit unbewußt-gewohnte Grazie – eine vorhandene motorische Begabung – nützt ihm bei der neu einzulernenden Bewegung nichts. Er sieht sich im Spiegel – ernüchternde Bewußtwerdung und Selbsterkenntnis – verkrampft sich, und er hat keinen Trainer, der ihn Lockerungsübungen machen läßt, ihm Abstand schafft und ihm den Bewegungsvorgang etwas bewußtseinsferner stellt. Im Gegenteil, die nur mit Mühe unterdrückte Häme des Ich-Erzählers tut ein Übriges.

Kleist schreibt, man müsse, um die verlorene paradiesische Harmonie wiederzufinden, die Reise um die Welt machen und sich von hinten ins Paradies schleichen und dabei zum zweiten Male vom Baum der Erkenntnis essen. Wie sieht diese Reise um die Welt aus und wie kann man Früchte von einem Baum essen, der im verschlossenen Paradies steht? Der Engel mit dem Flammenschwert hat im Bewußtsein des Menschen Stellung bezogen. Davon, daß Kleist dem Paradies einen bestimmten Ort im Universum zuweist, kann auch im Allerentferntesten die Rede nicht sein. Der Sündenfall hat es mit sich gebracht: Keine Erkenntnis ohne den göttlichen Cerberus. So scheint es, muß man die begehrten Früchte des Baumes im Schweiße seines Angesichtes herunterwürgen. Eine Tanzfigur oder auch nur ein Bewegungsablauf im Sport wird mit unendlicher Mühe erlernt und, wenn alles gut geht, schließlich in mehr oder weniger paradiesischer Harmonie beherrscht. So wird ein wenig paradiesische Harmonie erreicht, eine Parzelle des Paradieses zumindest vorübergehend besetzt.

Was sagte der Stolzgeschwellte, der das Sportgerät auf unerreichbar geglaubte Weite katapultiert hatte? „Der ist mir gut rausgerutscht!“ Darin liegt etwas von Lässigkeit, von geschehen lassen, von Automatismus. Der paradiesische Augenblick ließ vergessen, daß Eins, Zwei, Drei dazu nötig sei. Der mühevolle Weg um die Welt war dem Bewußtsein entschwunden.

Der Vorgang dieses Erlernens und Abspeicherns entspricht, bezogen auf das „Marionettentheater“, dem Zwischenstadium zwischen Gliederpuppe und Gott. Der bleibt freilich hyperbolisch unerreichbar.

Ein Paradies bevölkert von Kugelstoßern und Fußballtretern? Der unbezwingliche Drang nach Höherem zwingt uns, still zu stehn und nach anderem Ausschau zu halten.

Von großen Männern, Wissenschaftlern, Dichtern wird berichtet, daß ihnen die genialen Einfälle über Nacht kamen. Schnitzler habe dann seinen „Leutnant Gustl“ in wenigen Tagen hingeschrieben. Der Anstoß zu dieser Erzählung war aber lange vorher erfolgt. Thomas Mann hat den „Krull“ fast sein ganzes Leben lang mit sich herumgetragen. Den Seinen gibt es der Herr nicht im Schlaf. Da ist fluchgemäß Vorarbeit geleistet, die nicht augenfällig ist, manchmal nicht einmal den Produzenten. Im Falle Eichendorff bezeugt ein eng bekritzeltes Blättchen diese Vorarbeit, die zum Auffinden der Zauberworte für das berühmte Gedicht „Mondnacht“ führt. Niemand wird bestreiten wollen, daß da ein Teilstück paradiesischer Harmonie zugänglich gemacht wurde. Der harmonische Zustand wird aber durch die bekannten 1% Inspiration und die 99% Transpiration erreicht.

Kleist beschreibt im Aufsatz „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden“, wie er sitzend über den Akten einer verwickelten Streitsache durch stundenlanges Brüten nichts herausbringt und erst im Gespräch mit seiner eher schlichten Schwester, die des Problems völlig unkundig ist, „die Fabrikation seiner Idee auf der Werkstätte der Vernunft“ auf Touren kommt. Dabei sieht er nicht den Verstand sondern das Gemüt in Tätigkeit, welches „eine initiale verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit ausprägt“. Das Gemüt, die niederen Seelenkräfte! Mitte des 18ten Jahrhunderts ließ man sie als Quelle der Erkenntnis zu. Die Vernunft als alleinige Erkenntnislieferantin hatte bereits ausgespielt. Herz und Gefühl, ein geheimer unterirdischer Stollen, dem himmlischen Wachpersonal und dem klaren, kühlen Bewußtsein unbekannt, das Gemüt. Und Goethe wollte den Deutschen auf hundert Jahre verbieten, das Wort „Gemüt“ auszusprechen. Bei ihm hieß es: „Wer Großes will muß sich zusammenraffen“ und „Das Gesetz erst kann uns Freiheit geben“. Das „Wer nicht denkt, dem wird es geschenkt“ verbannt er ins Hexeneinmaleins.

Im Falle stundenlangen Brütens über Akten kann ich es mir nicht verkneifen, Kleist aus persönlicher Erfahrung zu bestätigen. Das Metier des Neurologen bringt es mit sich: Gutachten sind zu diktieren. Manchmal ist es nicht leicht. Es braucht Abstand, ein, zwei Tage sich mit anderen Dingen befassen, die Nacht darüber schlafen. Jeder kennt das. Dann ist das Puzzle plötzlich vollständig. Man hatte nur das kritische Detail, obwohl offensichtlich, zuvor übersehen.

Gibt es bei der Tätigkeit der Gedankenfabrik einen dem niederen motorischen Automatismus ähnlichen Ablauf? Thomas Mann beschreibt etwas zumindest Ähnliches, wenn seine Figur des Schriftstellers von Aschenbach im „Tod in Venedig“ „dem Fortschwingen des produzierenden Triebwerkes in seinem Inneren nicht Einhalt zu tun vermag“. Lokalisierbare Gehirnstrukturen, denen eine solche Funktion zugeordnet werden könnte, sind zumindest bis heute nicht ausfindig gemacht. Das Gehirn muß aber auch einmal als eine funktionelle Einheit gesehen werden, in der geistige Prozesse in Wechselwirkung sowohl bewußt als auch unbewußt ablaufen. Unbewußt hier nicht im tiefenspychologischen Sinne gebraucht. Thomas Mann, der hochbewußte Arbeiter, der seiner Großhirnrinde täglich ein bestimmtes druckreif ausgefeiltes Pensum abzwang, klagt im Alter: Es will sich nichts bilden! In seinen jüngeren Jahren bildete es sich bei der intensiven Vorarbeit, die er Kontaktnahme nannte, Quellenstudium, Beobachtungen, Notizen und dem Umgang mit dem Vortrefflichen, dem Lesen der großen Meister.

Wie läßt Kleist seine Figuren aus den Konfliktsituationen in paradiesische Harmonie entkommen, nachdem er sie vorher experimentell zwischen die Extreme z.B. Engel – Teufel geworfen hat (wie in der „Marquise von O...“)? Kann man die These aufstellen: Kleists Figuren durchlaufen einen Lernprozeß im Wechselspiel zwischen Bewußt und Unbewußt, Verstand und Gemüt? Kann man dann dieses Wechselspiel als äußerlich sichtbares Ergebnis einer Gehirnfunktion ansehen, die, wenn sie ungestört abläuft, zur paradiesischen Harmonie führt?

Das wäre ein Hauptspaß, eine literarische Struktur in einer physiologischen und damit letztlich auch in einer morphologischen, anatomischen, materiellen Struktur zu befestigen. Zu schön um wahr zu sein.

Man hat als Neurologe lernen müssen, den unumstößlichen auch von perfekten bildgebenden Apparaten gelieferten morphologischen Befunden mit Abstand zu begegnen, ja zu mißtrauen. Substantielle nachgewiesene Hirnläsionen haben keineswegs identische Krankheitsbilder zur Folge, insbesondere keine identischen Störungen geistiger Tätigkeit. Der eine will in Rente gehen, der andere arbeitet fleißig weiter. Von der Hirnstruktur zur literarischen Struktur, das ist ein zu weites Feld.

Immerhin: Als der Graf zum gegebenen Termin erscheint, und der Marquise von O... zum Bewußtsein kommt, das war er, und ihr Idealbild eines Engels zusammenbricht, erleidet sie einen Schock. Sie versteint, kann bei der Trauung den Grafen nicht ansehen. Erst im Laufe eines Jahres weicht die starre Haltung auf. Daß Vernunft allmählich wieder anfängt zu sprechen und Hoffnung wieder an zu blühn wird im Text nicht eigens erwähnt. Auch wird das Peinliche dem Bewußtsein ferngehalten, man will nicht davon wissen. Das kommt erst „einst in einer glücklichen Stunde“ an die Oberfläche, zwischen den nunmehr Eheleuten zur Sprache und wird sozusagen auch verstandesmäßig aufgearbeitet. Dem Vergewaltiger aber sagt im Laufe des Wartejahres „sein Gefühl, daß ihm von allen Seiten, um der gebrechlichen Einrichtung der Welt willen, verziehen sei“. Verzeihen kann man aber nicht mit dem Verstand, nur mit dem Gemüt.

Genug von höheren und niederen Seelenkräften. Wenden wir uns handfesteren Realitäten zu. Am Schluß der „Marquise von O...“ finden nicht unbeträchtliche finanzielle Transaktionen statt. 20 000 Rubel, sicherlich Goldrubel, und dazu die Aussicht, ein Vermögen zu erben, ist das vielleicht gar nichts? Brecht hat ein Sonett über den Prinzen von Homburg geschrieben, es endet: Und liegt zuletzt im Staub mit allen Feinden Brandenburgs. Bei der Marquise würde er sagen: Ist das nötige Geld vorhanden, ist das Ende meistens gut oder Geld macht sinnlich.


Kontakt: redaktion@medienobservationen.de Veröffentlicht am 25.07.2004

   
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