Thomas Neuner Der Leser als Wanderer
Im Folgenden soll das Werk „Die Ringe des Saturn“, wie schon der Untertitel „Eine englische Wallfahrt“ nahelegt, als ein Reise- oder Pilgerbericht untersucht werden, der die Welt, in diesem Fall die ostenglische Küste, „von vornherein [...] im Hinblick auf das eigene Ende“ durchschreitet. Es soll nachgewiesen werden, dass diese Reise nicht nur als Motiv an der Oberfläche des Textes eine Rolle spielt, sondern vielmehr geradezu zu seinem genuinen Strukturprinzip wird.
Die von der Kritik immer wieder bemerkte „umständliche und altertümliche Diktion, die Sebalds Büchern den sanft mäandernden Lauf der Sätze diktiert“ (1) , der „ruhige Wellenschlag seiner Sätze“ (2) , sind die passende Form für den melancholischen Gang durch Ruinen der europäischen Zivilisation, auf den Sebald seine Leser mitnimmt. Passend zu diesem „Erzähler in Wanderschuhen“ ist die Gemächlichkeit seiner Sprache, die „Diktion im Gehrock“. (3) Und die Darstellung selbst, die Form, die den Text strukturiert, assimiliert den spezifischen Modus der Wanderschaft. Nie geht die Erzählung direkt oder stringent von A nach B, sondern sie gerät immer wieder auf Ab- und Seitenwege, entdeckt Entlegenes und scheinbar Heterogenes zu neuen überraschenden Zusammenhängen. Raum, Zeit und Handlung werden in engen Bezug zueinander gesetzt und die erwanderten und beschriebenen Orte bilden gewissermaßen Knotenpunkte, an denen Disparates zusammenkommt. Die Schrift ist der Weg der Reise und ahmt die Wahrnehmung des Reisenden im Spannungsfeld von Zufall und Plan nach. Sebalds Erzählerfigur erweist sich zum einen als nachdenklicher homo viator, der auf seinen Reisen allenthalben auf Überreste der historia calamitatum stößt, einer Welt, die dem Übergang überantwortet ist. Zum anderen tritt der Erzähler als sensibler „Nachgänger“ (4) literarischer Ahnherren auf, denen er auf seinen Exkursionen nachspürt und deren Texte immer wieder in den eigenen integriert und zitiert werden. Die Wallfahrt ist also eine doppelte. Einmal ist der Erzähler auf den Spuren großer Melancholiker wie Swinburne oder Chateaubriand unterwegs, auf der Suche nach dem genius loci, der vielleicht Erlösung von Trübsinn verspricht. Zum anderen versinnbildlicht das se mettre en route des Erzählers aber von Beginn an auch den Schreibprozess selbst, quasi als räumliche Erfahrung der Lektüre.
Die allegorischen Formen, in denen sich laut Benjamin die „Physiognomie der Natur- Geschichte“ vorzugsweise zeigen, sind die Ruine und das Labyrinth. (5) Diese Motive, die in Sebalds Erzählung eine prominente Rolle spielen, weisen auf eine Metaphysik hin, der der Glaube an das ewige Leben, zugunsten eines unbestimmten Gefühls unaufhaltsamen Verfalls abhanden gekommen ist.
„Im August 1992, als die Hundstage ihrem Ende zugingen, machte ich mich auf eine Fußreise durch die ostenglische Grafschaft Suffolk in der Hoffnung, der nach dem Abschluß einer größeren Arbeit in mir sich ausbreitenden Leere entkommen zu können.“ (6) So beginnt Sebalds fiktiver Reisebericht. Offenbar ist die Gemütsverfassung des Erzählers von Anfang an mit Schwermut charakterisiert, und die Reise soll ihn, getreu dem Motto „solvitur ambulando“, (7) davon kurieren. Die Tatsache, dass Sebald die schon im Barock empfohlene Kur der Bewegung wiederaufgreift und der Umstand einer weitgehenden biographischen Deckungsgleichheit von Autor und Erzähler- Ich entlarven den Text sogleich als intertextuelle Maskerade, als geradezu klassisch postmodern. (8) Sehr bald ist dem Erzähler allerdings die anfängliche Hoffnung auf Zerstreuung, die er sich von der Reise versprochen hatte, verflogen und „lähmendes Grauen“ erfasst ihn „angesichts der Zerstörung.“ (9) Dieser Eindruck ist so nachhaltig, dass er „auf den Tag genau ein Jahr nach Beginn meiner Reise“ (10), nahezu vollständig gelähmt, in ein Krankenhaus eingeliefert werden muss, wo er den Entschluss fasst, die Reise zu dokumentieren. Nachdem das Unterfangen, der „Leere“ durch die Wallfahrt zu entkommen, fehlgeschlagen ist, verlagert der Erzähler es auf den Nachvollzug der Reise in der Verschriftlichung. Thesenhaft könnte man formulieren, dass nicht die „reale“, durchwanderte Landschaft Ostenglands der zentrale Ort der Erzählung ist, sondern der Schriftraum. Die eigentliche Reiseerzählung beginnt erst mit dem zweiten Kapitel, wie Claudia Albes bereits bemerkt hat. (11) Das erste Kapitel thematisiert die Transkription der Reise in die Schrift. (12) Im letzten Kapitel dann vollzieht die Erzählung einen weiteren Sprung bis in das Jahr 1995, knapp drei Jahre nach dem ursprünglichen Beginn der Reise steht der Prozess der Verschriftung kurz vor dem Abschluss. (13) Die chronologische Bewegung des Textes ist also nicht unbedingt linear, sondern eher zirkulär. „Travel frees the mind for the play of associations, for the afflictions and erosions of memory, for the savoiring of solitude“, schreibt Susan Sontag in ihrem Sebald- Essay. (14) Und in der Tat macht das erste Kapitel klar, auf welch vielfältig verschlungenen Pfaden und entlang wie vieler subtil verknüpfter Handlungsfäden das Assoziationsspiel des höchst gelehrten Erzählers geht. Jean Starobinski hat das melancholische Bewusstsein mit der Figur des Labyrinths verbunden. (15) Die vielfach verschlungenen Pfade der Erinnerung, der verschütteten Ereignisse und Lebensläufe, denen Sebalds Erzähler in „Die Ringe des Saturn“ nachgeht, lassen den Text als Irrgarten erscheinen. Darin ist der Leser derjenige, der sich nun vermehrt zu verlieren droht. Auch die Lektüre muss hier stets in Bewegung bleiben und hoffen, dass der Faden der Ariadne nicht doch noch reißt.
Ein wichtiger Bezugspunkt im Koordinatensystem des scheinbar alles mit allem assoziierenden Erzählers ist der britische Arzt und Gelehrte Thomas Browne, der, bereits im ersten Kapitel eingeführt, die lange Reihe von historischen Persönlichkeiten, von Chateaubriand über Algernon, Swinburne bis zu Joseph Conrad anführt. Gerade die sich in andere, seien es Ahnherren oder Geistesverwandte, hineinfühlende Hermeneutik Sebalds verrät sehr viel über seine eigene Poetik: „Die Unsichtbarkeit und Unfassbarkeit dessen, was uns bewegt, das ist auch für Thomas Browne, der unsere Welt nur als das Schattenbild eines anderen ansah, ein letzten Endes unauslotbares Rätsel gewesen. In einem fort hat er darum denkend und schreibend versucht, das irdische Dasein, die ihm nächsten Dinge ebenso wie die Sphären des Universums vom Standpunkt eines Außenseiters, ja man könnte sagen, mit dem Auge des Schöpfers zu betrachten. Und um den dafür notwendigen Grad von Erhabenheit zu erreichen, gab es für ihn nur das einzige Mittel eines gefahrvollen Höhenfluges der Sprache. Wie die anderen Schriftsteller des englischen 17. Jahrhunderts führt auch Browne ständig seine ganze Gelehrsamkeit mit sich, einen ungeheueren Zitatenschatz und die Namen aller ihm vorausgegangenen Autoritäten, arbeitet mit weit ausufernden Metaphern und Analogien und baut labyrinthische, bisweilen über ein, zwei Seiten sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen oder Trauerzügen gleichen, in ihrer schieren Aufwendigkeit. Zwar gelingt es ihm, unter anderem wegen dieser enormen Belastung, nicht immer, von der Erde abzuheben, aber wenn er, mitsamt seiner Fracht, auf den Kreisen seiner Prosa höher und höher getragen wird wie ein Segler auf den warmen Strömungen der Luft, dann ergreift selbst den heutigen Leser noch ein Gefühl der Levitation. Je mehr die Entfernung wächst, desto klarer wird die Sicht. Mit der größtmöglichen Deutlichkeit erblickt man die winzigen Details. Es ist, als schaute man zugleich durch ein umgekehrtes Fernrohr und durch ein Mikroskop.“ (16) Aus dieser Beschreibung geht unschwer hervor, dass auch Browne dem Typus des Melancholikers zuzurechnen ist. Claudia Albes hat dies verführt, Browne als den eigentlichen Reisebegleiter des Erzählers zu sehen, der durch seine Tätigkeit als Arzt fast dafür prädestiniert zu sein scheint, den melancholischen Gelehrten auf seiner Lebensreise zu begleiten, wie es Marsilius Ficino empfiehlt. (17)Das Gefühl der „Levitation“, welches der Erzähler als die große Qualität der Prosa Brownes ansieht, wird auch in seinen eigenen Erinnerungen immer wieder thematisiert: „Unter dem wunderbaren Einfluss der Schmerzmittel, die in mir kreisten, fühlte ich mich in meinem eisernen Gitterbett wie ein Ballonreisender, der schwerelos dahingleitet durch das rings um ihn her auftürmende Wolkengebirge.“ (18) In dieser Levitation liegt für Sebald die utopische Hoffnung auf eine Überwindung des Unglücks durch dessen Beschreibung begründet. (19) Sebalds Erzähler ist ein Grübler über Zeichen auf der Suche nach Rettung, die, wenn überhaupt, nur in der vita contemplativa, in der Meditation über fremde Biografien und ihre Wechselfälle, über merkwürdige Koinzidenzen, untergründige Parallelen, unheimliche Zufälle und dergleichen zugänglich zu sein scheint. Adornos Skizzierung der benjaminschen Philosophie ist auch für Sebald angemessen: „Ihn sprachen die versteinerten, erfrorenen oder obsoleten Bestandstücke der Kultur [...] so an, wie den Sammler das Petrefakt.[...] Das französische Wort für Stilleben, ´natura morte´, könnte über der Pforte zu seinen philosophischen Verliesen stehen.“ (20) Immer aber ist diese Erkundung rückgekoppelt an bestimmte Orte, an denen Geschichte und Geschichten sich abgelagert haben wie unterschiedliche Schriftzeichen auf einem Palimpsest. Allein schon die Fülle von indirekten oder direkten Zitaten einer ganzen Galerie von Autoren macht deutlich, dass Sebalds Prosa ganz wesentlich von Intertextualität geprägt ist. Der postmoderne Erzähler scheint sich seiner Identität nur über die Wiederholung versichern zu können – sei es durch die Wallfahrt an Orte, wo er der Aura der Vorgänger nachspüren will, etwa bei seinem Besuch Michael Hamburgers, in welchem Zusammenhang er selbst von den ihn „durchgeisternden Phantomen der Wiederholung“ (21) spricht, oder durch einen Besuch des Friedhofs von Ditchingham auf den Spuren der Biografie Chateaubriands, (22) aber auch im Hineinweben fremder Texte in seinen eigenen, beispielsweise in der wörtlichen Wiedergabe einer längeren Passage aus Jorge Luis Borges „Tlön, Ubbar, Orbis Tertius“, (23) immer stellt der Erzähler Bezüge her zwischen dem Universum seiner Lektüren und sich selbst. Dies hat zur Folge, dass die Grenzen zwischen Original und Kopie verschwimmen. (24)
Die Analyse der Orte kann hier nicht vollständig expliziert werden, es soll dennoch ein kurzes Resümee gezogen werden. Die englische Provinz formt sich dem wallfahrenden Erzähler zu einer „kulturellen Topographie“ (25), die aber nicht mehr durch die Kontinuität eines synthetischen Geschichtspanoramas erfahrbar ist, sondern sich in fragmentierte, einander überlagernde Perspektiven auffächert. (26) Deshalb muss die historische Ortsbegehung, etwa des Schlachtfeldes von Waterloo und damit die Rekapitulation der tatsächlichen historischen Ereignisse auch in der Aporie enden: „Stehen wir auf dem Totenberg? Ist das am Ende unsere Warte? Hat man von solchem Platz aus den vielberufenen historischen Überblick?“ (27) Die doppelte Abwesenheit der Geschichte, die auf ewig vergangen ist und zudem nie so stattfand wie ihre Repräsentationen glauben machen wollen, kann nur durch die Hilfskonstruktion der Literatur überbrückt werden. Realität und Authentizität bleiben aber unerfahrbar, „wie hinter wehenden weißen Schleiern.“ (28) In ihrer klassischen Form, beispielsweise in der Vedutenmalerei von „einem künstlichen, ein Stück über der Welt imaginierten Punkt“ (29) aus, ist die Repräsentation als „Fälschung der Perspektive“ (30) unglaubwürdig geworden. Das gleiche gilt auch für die religiösen symbolischen Darstellungen „einer übergeordneten Instanz.“ (31) An dieser Stelle tritt jedoch bei Sebald das freie aus seinem Kontext gelöste oder dieses dissimulierende Fragment. Bezeichnende Reaktion des Erzählers auf die Unhintergehbarkeit und undurchsichtige Hermetik der Zeichen sind die ihn periodisch heimsuchenden Schwindelanfälle. In ihnen manifestiert sich die Erfahrung von Verirrung und Ohnmacht angesichts einer unlesbar gewordenen Welt. Insgesamt fällt auf, dass Sebalds erzählerisches Verfahren des Sammeln und Katalogisierens ungleichartiger Fragmente, das Mikro- und Makrogeschichte ineinander verschränkt, sowohl die Kontinuität des Raumes wie auch die der Zeit auflöst. Das Modell der Reise als Möglichkeit der Welterschließung respektive Welterfahrung kann daher nicht unbeschadet bleiben.
Das Motiv des Labyrinths ist in doppelter
Hinsicht auf die „Ringe des Saturn“ angewendet: „Bei weitem am dichtesten und gründlichsten aber schien mir das in der Mitte des geheimnisvollen Geländes gelegene Eibenlabyrinth von Somerleyton, in welchem ich mich so gründlich verlief, daß ich erst wieder herausfand, nachdem ich mit dem Stiefelabsatz vor jedem der Heckengänge, die sich als Irrwege erwiesen, einen Strich gemacht hatte durch den weißen Sand.“ (32) Bei Claudia Albes heißt es zwar: „Der Orientierungslosigkeit während der Wanderung entspricht die Orientierungslosigkeit beim Schreiben,“ (33) Thomas Kastura hingegen betont gerade das ordnungsstiftende Element von Schrift und Literatur als „Gegenwelt“ zum“Urmotiv“ des „Weltlabyrinths“. (34) Es sei hier zunächst dahingestellt, wie desorientiert oder im Gegenteil organisiert der Erzähler seinen Stoff formt. Wichtig erscheint erst einmal, zu erkennen, dass ein Korrespondenzverhältnis zwischen labyrinthischer Wanderung und labyrinthischem Text existiert und dass das Labyrinth als „Textmetapher“ (35) gelesen werden kann. Ausgehend von dieser Lesart soll eine Passage expliziert werden, die den Erzähler in dem Heidelabyrinth als heillos verirrt darstellt. Sie ist von zentraler Bedeutung für Sebalds Poetik der Dislokation: „In die unablässig in meinem Kopf sich drehenden Gedanken verloren, und wie betäubt von dem wahnsinnigen Blühen, wanderte ich auf der hellen Sandbahn dahin, bis ich zu meinem Erstaunen, um nicht zu sagen Entsetzen, mich wiederfand vor demselben verwilderten Wäldchen, aus dem ich vor etwa einer Stunde oder wie es mir jetzt schien, in irgendeiner fernen Vergangenheit hervorgetreten war. Der einzige Orientierungspunkt auf dieser baumlosen Heide, eine sehr seltsame Villa mit einem rundum verglasten Aussichtsturm hatte sich, wie mir nun erst bewußt wurde, während meines achtlosen Dahingehens immer wieder unter einer völlig unerwarteten Perspektive bald in der Nähe, bald weiter entrückt, bald links, bald zu meiner Rechten gezeigt, ja einmal war der Aussichtsturm sogar in kürzester Frist gleichsam wie durch eine Rochade von der einen Seite des Gebäudes auf die andere geraten, ganz als hätte ich unversehens statt der wirklichen Villa ihr Siegelbild vor mir. Gesteigert wurde meine Verwirrung im übrigen dadurch, daß ich die Wegweiser an den Gabelungen und Kreuzungen, wie ich beim Weitergehen mit zunehmender Irritation feststellte, ausnahmslos unbeschriftet waren und daß statt einer Orts- oder Entfernungsangabe immer nur ein stummer Pfeil in diese oder jene Richtung deutete. Folgte man seinem Instinkt, dann stellt sich über kurz oder lang unweigerlich heraus, daß der Weg von dem Ziel, auf das man zuhalten wollte, immer weiter davon abwich. Einfach geradeaus querfeldein zu gehen, war wegen des verholzten, gut kniehohen Erikagestrüpps ausgeschlossen, und so hatte ich keine andere Wahl, als auf den krummen Sandwegen zu bleiben und mir jedes kleinste Merkmal, jede noch so geringfügige Verschiebung des Prospekts möglichst genau einzuprägen. [...] Ich kann nicht sagen, wie lange ich in dieser Verfassung herumgeirrt bin und auf welche Weise ich zuletzt einen Ausweg gefunden habe.“ (36) Nur in einem späteren Traum vermag der Erzähler, die Struktur des Labyrinths zu entschlüsseln, indem er von einem erhöhten Aussichtspunkt, den er in der Realität nicht finden konnte, die Irrwege überblickt: „Und als ich von diesem Aussichtsposten hinabblickte, sah ich auch das Labyrinth selber, den hellen Sandboden, die scharf abgezirkelten Linien der mehr als mannshohen, fast schon nachtschwarzen Hecken, ein, im Vergleich mit den Irrwegen, die ich zurückgelegt hatte, einfaches Muster, von dem ich im Traum mit absoluter Sicherheit wußte, daß es einen Querschnitt darstellte durch mein Gehirn.“ (37) Umberto Eco hat in seiner Nachschrift zu seinem Roman „Der Name der Rose“ drei historische Formen des Labyrinths unterschieden. Zum ersten das Labyrinth des König Minos, das als völlig regelmäßige Anlage nur einen Weg ins Zentrum kennt, wo Minotaurus wartet. Die zweite Form ist die des barock-manieristischen Labyrinths, also der Irrgarten und drittens die postmoderne Variante des Labyrinths als Netzwerk, oder um es mit Deleuze und Gattari zu sagen, als Rhizom. (38) Das hier geschilderte Labyrinth ist eindeutig dem zweiten barocken Typus zuzuordnen. Wesentlich ist diesem die „Differenz von Außen- und Innenperspektive“, Überblick gibt es nur von außen, von speziell errichteten Türmen, die dem Besucher nach der Begehung die Möglichkeit bieten sollten, das System der Irrwege zu überschauen. (39) Martina Wagner-Engelhaaf hat darauf hingewiesen, dass die barocke Form des Labyrinths aufgrund seiner Doppelstruktur von Innen und Außen zur „bevorzugten christlichen Allegorie“ wurde, „in der das Herumirren in den Gängen des Labyrinths der menschlichen Lebenserfahrung in der von Vanitas gezeichneten Welt entspricht, während der Blick vom Turm das Leben der Menschen vom Erlösungsgedanken her neu interpretiert.“ (40) So konnte das ursprünglich heidnische Motiv in Bezug gesetzt werden zur Pilgerfahrt nach Jerusalem, als Konkretion des schwierigen Wegs zum Heil. (41) Von Erlösungshoffnung ist aus der Traumperspektive des Erzählers allerdings wenig zu spüren. In einer Vision breughelscher Dimensionen nimmt er „Kreuzottern, Vipern und Eidechsen“ wahr, die über dem Abgrund schwankende belgische Villa, grotesk proportionierte Vögel und Fischer, „die seltsam verrenkten Leiber der Bewohner“, kurz eine einzige „Szene der Zerstörung“. (42) Die deutlichste Verknüpfung von Labyrinth- und Jerusalemtopos findet sich in dem Miniaturtempelmodell, an dem der pensionierte Dorfschullehrer Alec Garrand „seit gut zwei Jahrzehnten“ baut, „genau so wie er gewesen war am Anfang unserer Zeitrechnung“. (43) Der Tempel ist zunächst einmal der Ort, wo sich die „Weltgeschichte verdichtet hat“ (44) er kann aber nur noch in der Form des Modells, als Resultat eines unabschließbaren archäologischen Forschens und Sammelns rekonstruiert werden. Er ist aber auch eine Allegorie auf den Prozess des Schreibens, etwa wo Garrand von den „Veränderungen, die ich an der Konstruktion immer wieder vornehmen muß“ (45) spricht. Mit der „letztlich sinn- und zwecklosen Bastelarbeit“ (46) des Schreibens versucht der Erzähler, sich über die Leere hinwegzuhelfen. Beinahe scheint hier so etwas wie die „In-Gang-Haltungsbedürftigkeit der Welt“, die „vom Zerfall bedroht ist“, vorzuliegen, von dem der Ägyptologe Jan Assman spricht und deren Pflege in der Antike dem schriftkundigen Priester oblag. (47) Bei Assman findet sich außerdem ein bemerkenswerter Passus über den Zusammenhang von Tempel und Schrift, der im Hinblick auf Sebald von Interesse erscheint: „Es ist eine der merkwürdigsten Koinzidenzen der Geschichte, dass der jüdische Tempel genau in dem Moment zerstört wird, als er aus der inneren Entwicklung der Religion heraus überflüssig geworden war. Die Schrift hatte sich bereits an seine Stelle gesetzt [...]. Der Tempel war gewissermaßen überfällig, denn der Kult hatte seinen Tod bereits in der Schrift gefunden.“ (48) Da sich der Sinn aber nur in der auf ewig unabschließbaren Annäherung an die Wirklichkeit einstellt, findet der Text nur schwer zu einem zwangsläufigen Ende. Während das vom Erzähler beschriebene Labyrinth dem barock-manieristischen entspricht, gleicht der Text in seiner Gesamtstruktur einem Rhizom, also eher dem dritten Typus. Das Rhizom kennt kein eigentliches Ziel mehr, sondern nur noch Umwege. In seinem nicht-linearen, willkürliches und gelehrtes Wissen miteinander verschmelzendem Erzählen, seinen Motivverknüpfungen und in dem Gegeneinander von Erlösungshoffnung und Wiederholungszwang sowie den untergründigen Interdependenzen von Ereignissen, die er entfaltet, gleicht der Text dem Rhizom. In einem solchen Labyrinth ist der Ariadnefaden aber längst gerissen und nutzlos geworden, der Leser muss letztendlich vor der Überzahl von Anspielungen und Querverweisen kapitulieren. Wenn man ´Verstehen´ als „Etwas in seiner Räumlichkeit Erfassen definiert“, (49) muss der Status der Selbstverortung eines Erzählers, der stets vom Gefühl einer latenten Heimatlosigkeit, Dislokation und Jenseitigkeit geprägt ist, ein prekärer sein. Nur noch im Schriftraum, einer symbolischen, literarischen Welt „zweiten und dritten Grades“ kann sie gelingen. Allen vermeintlichen Verwerfungen und Brüchen von weltgeschichtlichen oder individualbiographischen Ausmaßen entgegen, konstituiert sich in der Schrift ein dichter Raum der Tradition, in die sich der Erzähler gerne einschreibt, als könne er sich seiner selbst nur noch im Zitat versichern. (50)
Alle Reiseerlebnisse des Erzählers entspringen letztendlich seiner Lektüreerfahrung und münden zwangsläufig wieder in dieselbe. So entsteht ein Zirkelschluß ad infinitum und der Text selbst endet dann auch folgerichtig wieder mit einer Anspielung auf den Reisebegleiter: „Und Thomas Browne, der als Sohn eines Seidenhändlers dafür ein Auge gehabt haben mochte, vermerkt an irgendeiner, von mir nicht mehr auffindbaren Stelle seiner Schrift Pseudodoxia Epidemica, in Holland sei es zu seiner Zeit Sitte gewesen, im Hause eines Verstorbenen alle Spiegel und alle Bilder, auf denen Landschaften, Menschen oder die Früchte der Felder zu sehen waren, mit einem seidenen Trauerflor zu verhängen, damit nicht die den Körper verlassende Seele auf ihrer letzten Reise abgelenkt würde, sei es durch ihren eigenen Anblick, sei es durch den ihrer bald auf immer verlorenen Heimat.“ (51) Der letzte Satz der Erzählung rückt noch einmal das gesamte Thema der Wanderschaft in Form der Grenzüberschreitung, der Transmigration in den Mittelpunkt: Die Reise der Seelen nach dem Tod. Bezeichnenderweise wiederum in einer Form, die die Unterscheidung zwischen Original und Plagiat verschleiert. Die genau Stelle des verwandten Zitats ist dem schwellenkundigen Erzählerpriester des genius loci nicht mehr zugänglich. Der Titel der Schrift Pseudodoxia Epidemica aber, welcher frei übersetzt, weit verbreitete gelehrte Irrmeinungen erklärt, gibt vielleicht einen versteckten Hinweis auf die Haltung Sebalds, die man hier nur als ironische Absage an alle Sinn- und Wahrheitssuche des modernen Pilgers interpretieren kann. Als melancholischem Archäologen bleibt ihm nichts, als über den erratischen Trümmern einer sich zutragenden Verfallsgeschichte zu grübeln. In dieser Sinnstiftung ex negativo, unter dem distanzierten und traumatisierten Blick einer umgekehrten Eschatologie, ist die Kontinuität von Geschichte und Kultur auf paradoxe Weise gerettet. Sebalds Text gleicht nicht nur dem Labyrinth und der Bibliothek als symbolischer Raum des Dialogs mit der Vergangenheit, sondern auch dem Mausoleum, das nur seine Fassade, seine Oberfläche preisgibt. Was aber im Inneren steckt, bleibt geheimnisvoll und dem Zugriff des Verstandes entzogen. So verstanden liest sich das beschriebene Grabmahl des heiligen Sebaldus als implizite Poetik Sebalds. Das prächtige, überladene, „tonnenschwere Monument“, wo „zuoberst die dreigipflige Himmelsstadt mit ihren ungezählten Wohnungen, Jerusalem, die sehnlich erwartete Braut, die Hütte Gottes unter den Menschen, das Bild eines anderen, neu gewordenen Lebens“ thront. (52) Im Innersten ruhen aber in einem silbernen Schrein „die Gebeine des exemplarischen Toten und Vorläufers einer Zeit, in welcher uns die Tränen abgewischt werden von den Augen und in der weder Leid sein wird noch Schmerz noch Geschrei." (53) Hier wird deutlich, dass in der Suche nach dem Metaphysischen, nach der himmlischen Stadt nicht das zentrale Anliegen des Erzählers liegt. Es geht hier vielmehr um das Errichten eines symbolischen Raums, dem Mausoleum als dem Ort des Dialogs zwischen Vergangenheit und Zukunft, Toten und Lebendigen, ein Ort, der auf Ewigkeit hin ausgerichtet ist. Und das findet in einer Schrift statt, die sich auch stilistisch ihres sakralen Charakters versichern will. Der Text als Mausoleum ist aber vor allem geprägt von der Leere, dem Geheimnis im Inneren. Von der „torricellischen Leere“ (54) der englischen Landhäuser des 18. Jahrhunderts über die Menschenleere der anästhesierten ostenglischen Landschaft des ausgehenden 20. Jahrhunderts schließt sich der Kreis in einem ihnen entsprechenden Vakuum der Kunst. Das Absolute ist nur noch in der Abwesenheit spürbar.
Literatur:
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Verfasser: Thomas Neuner, veröffentlicht am 21.08.2006 |
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