Robert Walser


Bernd Scheffer


"... durchs Lieferantentürli in die Paläste der Literatur"
Robert Walser und der Erfolg

 

Der Schweizer Schriftsteller Robert Walser gilt jedenfalls bei Experten längst als Klassiker der Moderne. Seine Erfolglosigkeit zu Lebzeiten wird bis heute allerdings als Zeichen von Qualität gewertet. Dürfen wir uns - wieder einmal- genussvoll an einem Dichter schadlos halten, der vielleicht doch zu viel für das Schreiben seiner eigenen Texte geopfert hat?

Es ist nett, von jemandem zu sprechen,
der nicht das Gespräch des Tages bildet.
Man kommt sich fein vor, indem man das tut.
(Robert Walser, "Beardsley")


Robert Walser hat zeitlebens befürchtet, dass bei einem öffentlichen Erfolg die Eigenart seines Werks verfälscht oder sogar zerstört werden könnte; diese Befürchtung ist ein wesentlicher Bestandteil seines dichterischen Sprechens. Zudem fällt auf, dass auch die Literaturwissenschaft und die Literaturkritik im Falle von Robert Walser mit einer besonders starken Skepsis einem breiteren Lesepublikum entgegensehen. Sie halten es für einen Vorzug der Texte, wenn sie sich nur schwer popularisieren lassen. Den Anfang machte Walter Benjamin, als er (in einer der ersten Arbeiten zu Walser überhaupt) dessen Texte leidenschaftlich gegen die in den zwanziger Jahren herrschenden Tendenzen und Erwartungen des allgemeinen Literaturbetriebs stellte.

Zumindest die äußeren Voraussetzungen, Robert Walser zu lesen, haben sich in den siebziger Jahren beträchtlich verbessert: Unter der Leitung von Jochen Greven wurde das 12-bändige Gesamtwerk,zunächst im Verlag Helmut Kossodo, dann als preiswerte Taschenbuchausgabe bei Suhrkamp herausgegeben. Romane und ausgewählte Texte erschienen auch bei anderen Verlagen in deren Taschenbuch-Reihen. Das Fernsehen brachte Verfilmungen der Romane "Jakob von Gunten", "Der Gehülfe" und „Geschwister Tanner“. Wenn Robert Walser es nicht längst schon war, so muss er spätestens jetzt als Klassiker der Moderne gehandelt werden.

Gelangt ein Werk allerdings zu einer etwas größeren Verbreitung, so wird aber immer auch etwas an diesem Werk verkürzt, eingeordnet, erledigt, zu den Beständen genommen. Abgesehen von der Frage, ob der "Klassiker" denn wirklich gelesen wird, taucht auch noch das Problem auf, wie er denn gelesen werden sollte. In vergleichbaren Situationen einer Klassiker-Rezeption sieht es nämlich so aus, als müsste das Werk eines Schriftstellers wenigstens teilweise auch etwas für ein fragwürdiges Literaturverständnis hergeben, bevor ein Autor zum Klassiker avancieren kann: Es muss nach wie vor erfolgreich für eine Art von bildungs-bürgerlicher Anerkennung kandidieren können.

So wurde Walser von Hans G. Helms als ein von "Klassensolidarität motivierter Autor" gepriesen, weil er sich der "elenden sozialen Lage jener kleinen Angestellten und Beamten (...), für die sich der Begriff Stehkragenproletariat eingebürgert hat", angenommen habe. Zwar bewegt sich ein Teil von Walsers Sprechen um die Unerträglichkeiten und, wenn man so will, Entfremdungen der Schreibtischarbeit, aber diese Bewegung lässt sich nicht in der Weise anhalten, dass daraus unvermittelt Einsichten und Schlüsse zu gewinnen und zu propagieren wären. Robert Walser entzieht sich immer wieder, und er entzieht sich gewissermassen konstitutiv: "Schüchtern kann der Poet sein, der, von der Welt verachtet, sich in seiner einsamen Dachkammer die Manieren, die in der Gesellschaft gelten, abgewöhnt hat, aber ein Commis ist noch viel schüchterner. Wenn er vor seinen Chef tritt, eine zornige Reklamation im Munde, weißen Schaum auf den bebenden Lippen, sieht er da nicht wie die Sanftmut selber aus?" ("Immer noch Verkleidung")

Die Leistung Walsers liegt darin, dass er ein rasches, einfaches, Bescheidwissen-, Besserwissen-Wollen gerade nicht beliefert, dass er sich davor zurückhält, schon die alltägliche Wirklichkeit in jenem direkten Zugriff erfassen zu wollen, der für ein übliches Schreiben, der für übliche Leseerwartungen selbstverständlich zu sein scheint. Der künftige Leser hätte also so etwas wie einen produktiven Sinn von Verunsicherung bei der Lektüre Walsers von Anfang an vorauszusetzen. Wenn es sich außerhalb von Literatur trotzdem kaum vermeiden lässt, zumindest Alltägliches als erkennbar, als bekannt zu simulieren, warum sollten dann ausgerechnet Literatur und Literaturkritik hinter die bestehenden Erfahrungsschwierigkeiten zurückfallen? Bereits am Beginn der Lektüre wird der Leser also mit einer für das Lesen von Literatur vorteilhaften Anstrengung konfrontiert, indessen einer Anstrengung, die dem arrivierten Geschmack und dem Geschmack der Arrivierten nicht so recht gefallen will.

Zu achten wäre demnach auf die Zurückhaltungen im dichterischen Sprechen Walsers: "Auf welche Weise es mich zieht, und warum es mich zieht, wird der geneigte Leser selber wissen, wenn er das Interesse hat, meiner Beschreibung weiter zu folgen, welche es erlaubt, über Weg, Wiesen, Wald, Waldbach und Feld zu springen bis an den kleinen See selbst, wo sie stehen bleibt mit mir und sich nicht genug über die unerwartete, nur heimlich geahnte Schönheit desselben verwundern kann." ("Der Greifensee")

Hier ist auch die Rede davon, dass die Erzählung für den Leser wirklich vieles überspringt und, obwohl weitergehend, doch exakt dort "stehen bleibt", wo man, dem Titel gemäß, herkömmlicherweise mit einer Darstellung des "Greifensees" rechnen könnte; das "Verwundern" hingegen hält an.

Das Schreiben Robert Walsers ist unterwegs zu Sachverhalten, zu Aussagen, zu Dingen, aber es bleibt unterwegs, und oftmals geht das, was man noch für das Ziel der Beschreibung halten könnte, gänzlich verloren: "Schneeglöckchen lispeln allerlei. Sie erinnern an Schneewittchen, das in den Bergen, bei den Zwergen, freundliche Aufnahme fand. Sie erinnern an Rosen, darum weil sie anders sind. Alles erinnert stets an sein Gegenteil. Nur hübsch ausharren. Das Gute kommt schon. Gutes ist uns immer näher, als wir glauben. Geduld bringt Rosen. Dieser alte, gute Spruch fiel mir ein, als ich letzthin Schneeglöckchen sah." ("Schneeglöckchen")

Walsers Albernheiten, seine Kalauer (wenn es denn überhaupt Albernheiten und Kalauer sind) sind freilich nicht harmlos: nicht das Destruieren des Themas „Schneeglöckchen“ ist destruktiv, sondern in der durchgängigen Bewegung von "Ausharren" ergibt sich der entscheidende Vorstoß in die Zwischenbereiche, in die Bezüge, in die Strukturen des Erzählens. Fortlaufend ist bei Walser das dichterische Sprechen thematischer Bestandteil der Texte, das Unterwegssein, der Gang (besonders der Spaziergang) erweist sich als die Metapher des Erzählens selber: "Simon griff wieder in die Mandoline, auf welcher er Zauberer war. Die Erzählung setzt sich hinten wieder auf einen Stein und horcht ganz verblüfft. Unterdessen gewinnt der Verfasser Zeit, auszuruhen. Es ist ein mühseliges Geschäft, Geschichten zu erzählen. Immer hinter solch einem langbeinigen, mandolinespielenden romantischen Bengel herlaufen und horchen, was er singt, denkt fühlt und spricht. Und der rohe Schurke von Page läuft immer und wir müssen hinter ihm herlaufen, als ob wir wahrhaftig des Pagen Page wären." ("Simon / Eine Liebesgeschichte")

Was hier wie ein lockeres Spiel erscheint, deutet indessen beträchtliche Auswirkungen auf das dichterische Sprechen generell an. Wo Gehen und Schreiben gegenseitig verwechselbar werden, ergibt sich die Frage nach der Konstruktion bzw. Dekonstruktion von Dichtung: "Ich ging, und indem ich ging, legte ich mir die Frage vor, ob es nicht besser sei, mich umzudrehen und wieder heimzugehen." ("Die Landschaft")

In seinem ganzen Werk kämpft Walser um einen Zustand, in dem das Reden, vom Schreiben ganz zu schweigen, nicht mehr nötig wäre. Hier bestehen gewisse Ähnlichkeiten zu Franz Kafka. Robert Walser macht diese Problematik zum Hauptthema seines Schreibens und zum Prinzip seiner Schreibweise; er ist dessen in voller Klarheit bewusst. Man muss keine Legende aus dem Umstand machen, dass Robert Walser fast 30 Jahre bis zu seinem Tod (1956 auf einem Spaziergang; auch dies ist eher Zufall und weniger ein Zeichen) in Heilanstalten lebte. Walser hat dort zunächst weitergeschrieben, unabhängig von einer sich verschärfenden geistigen Krankheit hat er genau zu dem Zeitpunkt mit dem Schreiben aufgehört, als sein Lebensunterhalt abgesichert war, als er jedenfalls die Angst nicht mehr zu haben brauchte, ins Armenhaus abgeschoben zu werden. Die "Stimmen", die Robert Walser geplagt haben, beziehen sich bezeichnenderweise auf seine Erfolglosigkeit als Schriftsteller, sie könnten auch als Metapher jener Selbstzweifel verstanden werden, denen alle Kreativität ausgesetzt ist.

Was sich bei Robert Walser aus dem Biographischen herleitet, ist in keinem Falle mit diesem gleichzusetzen. Das "Ich" als die in Walsers Texten vorherrschende Redeform unterliegt seinerseits den Zurückhaltungen und Brechungen, die es herbeiführt; es versagt sich einer nach außen abziehbaren Personalität und bleibt oft nur als das Pronomen, als die Redeform "Ich" konsistent: "Im vorliegenden Versuch ein Selbstbildnis herzustellen, vermeide ich jedes Persönlichwerden grundsätzlich." ("Walser über Walser")

Psychologische und psychoanalytische Interpretationen müssten, abgesehen davon, dass sie über die Literarität von Texten, über deren Charakter als Dichtung kaum etwas aussagen können, gerade auch da zurückhaltend sein, wo sie bei Walser auf überraschende Wendungen (im doppelten Sinne) treffen; etwa wenn Walser auf die Umfrage "Gibt es verkannte Dichter unter uns?" antwortet: "Was mich betrifft, so habe ich mich keineswegs über Verkanntheit zu beklagen. Ich kenne Leute, die sich nach mir sehnen. Individualitäten umwerben mich. Frauen von nicht zu mißverstehender gesellschaftlicher Bedeutung freuen sich, wenn ich nur in geringem Grad artig zu ihnen bin. Jeweilen frühmorgens erquickt sich meine Daseinslust an feinstem holländischem Kakao. In meinen Schänken liegen nicht die besten, aber die bekömmlichsten Weine. Meiner Meinung nach werden die Dichter im großen und ganzen nur zu gerne und zu rasch anerkannt." Vielleicht gibt es hier für den unvorbereiteten Leser die Versuchung, Anzeichen einer beginnenden Krankheit, die Kakao-Wendung etwa gar als schizophrenen Bruch zu sehen, so als sei Walser gar nicht mehr imstande, eine Fragestellung überhaupt noch anzunehmen und zu beantworten. Indessen ist kaum vorstellbar, dass Walser von solchen Umfragen viel gehalten hat; in der durchgängigen Ironie beschreibt der Kakao-Genuß als extremer Gegenpol „tatsächlich“ diejenige Daseinslust, die Walser im öffentlichen Erfolg nicht sehen konnte.

Die Gründe für Walsers Schweigen sind integraler Bestandteil der fortlaufend thematisierten dichterischen Selbstreflexion, die gerade auch vom Nutzen der Erfolglosigkeit redet. Abgesehen vom problematischen Charakter der Sprache der als dem Material von Dichtung ist für Walser das literarische Sprechen auch deshalb nicht mehr selbstverständlich, weil er die Gefahr sah, dass Schreiben eine Skepsis überhaupt erst erzeugen könnte, die ansonsten vielleicht ausbliebe: " Ich will die Wälder da oben nicht rühmen, sie könnten sonst ihre Unschuld einbüßen, ihr Wunderbares." Oder auch: "Angstzustände habe ich hier in der Anstalt keine, was ich sehr gut zu begreifen vermag, denn hier schriftstellere ich vorläufig nicht mehr, (...)."

Dies schreibend hat sich Walser noch eine Zeitlang gegen die endgültige Konsequenz solcher Sätze gewehrt; er erfand für sich eine Bleistift-Schrift, nachdem er "mit der Feder einen wahren Zusammenbruch" seiner Hand erlebt hatte. Es ist ihm dann auch nicht mehr um Erfahrungsmöglichkeiten, um Zugewinn, um sprachliche Aneignung von Welt zu tun, sondern um deren Erledigung: "Was soll ich mit den Gefühlen anfangen, als sie wie Fische
im Sande der Sprache zappeln und sterben zu lassen?" ("Eine Ohrfeige und sonstiges") Nun stellt die Ausweglosigkeit solcher Sätze nicht schon den Endpunkt jeglicher Literaturkritik dar. Der Leser braucht sich damit und soll sich damit ja nicht identifizieren. Das Dilemma der Literaturkritik besteht vielmehr darin, dass die Texte selbst ein Mißtrauen gegen Literatur und deren gesamte Leserschaft vollziehen. Und gleichzeitig muss die Literaturkritik darauf vertrauen oder doch darauf hoffen, dass diese Herausforderung erhalten bleibt, dass das Werk Walsers nicht, wie bereits vielfach geschehen, um seine skeptische Dimension verkürzt wird.

Die Reflexion auf das Material Sprache, die in den Werken vorgenommene Problematisierung des dichterischen Sprechens ist ein Grund dafür, dass Walser auch zu einem Schriftsteller für Schriftsteller werden konnte. Die Reihe ist lang, sie reicht von Franz Kafka über Martin Walser bis hin zum jungen Wolf Wondratschek (der einmal, bevor er sich für Boxer und Huren interessierte, eine Doktorarbeit über Robert Walser schreiben wollte). Genauso hängt es auch mit Walsers Werk zusammen, wenn andere Verehrer Walser wie einen Geheimtip handelten und ihn dabei auch immer ein wenig für sich behalten wollten. Den heiklen Punkt dieser sicher auch nicht richtigen Lesereinstellung berührt Urs Widmer, wenn er davon spricht, dass Walser "stellvertretend ein bißchen unsere eigenen Ängste bewältigen hilft" und dann fragt: "Muss das denn immer wieder der Preis sein: ein schönes Werk, auf Kosten eines schönen Lebens?" Nun ist ein schweres Leben bestimmt keine Voraussetzung für ein schönes Werk, vor allem hat ein schönes Werk letzten Endes wohl nie dessen Urheber für ein schweres Leben entschädigen können. Dass die Rezeption immer Gegenteiliges glauben wollte, kennzeichnet nur erneut ihre Fähigkeit, selbst biographische Intentionen umzuarbeiten und zu verdrängen. Nun geht es ja nicht um die Biographie, obwohl die allein ausschlaggebende Konzentration auf das Werk gerade auch zu ihr in einem angemessenen Verhältnis erfolgen müsste. Es macht die Situation im Falle Walsers so prekär, dass dies nur schwer gelingt. "So sehr Robert Walser fast fiebernd daran festhielt, ein Dichter zu sein, und nur das, so sehr war das Dichten gerade das, was er auf keinen Fall wollte. (...) Natürlich, vor allem, als er jünger war, bedeutete Schreiben auch ‚Erfolg’. Aber er hatte trotzdem auch zu Zeiten, wo er Erfolge hatte, allein schon deshalb das Gefühl, ein erfolgloser Schriftsteller zu sein, weil für ihn das Schreiben überhaupt eine Niederlage war." (Urs Widmer)

Der Leser kann also die Erfolglosigkeit Walsers nicht guten Gewissens zum Beweis von Bedeutung umfunktionieren, und die Zuversicht, dass auch Walser als erfolgreicher "Klassiker" nachträglich über seine Zweifel siegen wird, ist wieder einmal ein fader Triumph. Und wenn Walsers Texte Angstirritationen überhaupt erst benennen und dann doch noch dazu beitragen, Ängste zu bewältigen, so bleibt selbst dabei noch das Gefühl, dass man sich gleichsam schadlos hält an einem, der dies zu teuer erkauft hat. Auch dies geschieht schließlich weniger aus der Kenntnis von Walsers Biographie als vielmehr daraus, dass dies ebenfalls thematischer Gegenstand seiner Dichtung ist: "Eigentümlicher Genuß, sich an Szenen zu ergötzen, deren Erfinder es so übel ging." ("Eine Ohrfeige...") Vielleicht verhält es sich aber immer so, vielleicht lässt sich das Schadloshalten gar nicht vermeiden. Wer sich trotzdem einlässt, kann jedenfalls wiederum nicht mit Robert Walsers Unterstützung rechnen: "Der Gedanke an den Leidenden hinderte mich nicht, in eine Orange zu beißen." ("Eine Ohrfeige...")




Verfasser: Prof. Dr. Bernd Scheffer ; Datum der Veröffentlichung: 30.12..2003;
   
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