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Alexander Kolerus
Abstract: Mit der zunehmenden technischen Manifestation kommunikativer Strukturen im Informationszeitalter wird die Überprüfung und ggf. Revidierung konventioneller Interpretationsstrategien in nie gekanntem Maße relevant. Aufgrund der komplizierten Verschachtelung unterschiedlicher Kommunikationskonzepte und -Modelle in technischen Medien entfällt der Universalitätsanspruch einzelner Theorien zugunsten einer locker organisierten methodischen Kooperative, die es vermag, sich je nach Untersuchungsbereich entsprechend zu gruppieren. Ein menschlicher Zugriffsversuch auf die Außenwelt geschieht immer in der Form der Interpretation. Das Wahrnehmen oder Erkennen einer "objektiven" Realität bezieht sich auf vorangegangene Interpretationen, seien es die eigenen, temporären, oder die Anderer in der Form von kulturell mehr oder minder verfestigten Schemata und Konventionen. Unsere Wahrnehmung ereignet sich als ein Wechselspiel von Konstruktionen, die oft irrtümlich mit einer realen, objektiv vorhandenen Außenwelt gleichgesetzt werden. Am stärksten besteht diese Gefahr bei jenen Konstruktionen, die man als "allgemeingültig" oder "allgemein anerkannt" bezeichnen könnte. Die Gefahr einer Gleichstellung von Konvention und Realität wird an diesem Punkt besonders groß. Die Beschaffenheit der individuellen Konstruktion in jeder Form von Wahrnehmung gründet sich zu einem erheblichen Teil auf dem Standpunkt des Konstruierenden, auf die Perspektive, die der Wahrnehmende einnimmt, wenn er versucht, die Außenwelt zu erfassen. Da eine vollständige, ganzseitig bestimmte Erfassung der objektiven Welt nicht möglich ist, muß jede Form von Wahrnehmung als kriteriös determiniert angesehen werden. Die vom Wahrnehmenden, ob bewußt oder unbewußt, angelegten Kriterien sind der Ausgangspunkt seiner erfolgenden Konstruktion, sie bestimmen insbesondere diejenigen Bereiche vor, in denen sie sich von Anfang an ereignet und die sie nicht überschreiten kann und wird, außer im Fall eines Perspektivenwechsels oder der Modifikation der Perspektive. Die in der Wahrnehmung nicht erfaßten Aspekte werden im Vorstellungsbewußtsein des Wahrnehmenden ausgeglichen, indem er sie hinzukonstruiert. Jeder Wahrnehmende ist also zugleich Interpretierender und Konstruierender. Angesichts dieser Überlegungen könnte die Aufgabe einer wissenschaftlich fundierten Interpretation als Unmöglichkeit erscheinen. Gesteht man zu, daß der unmittelbare Zugriff auf eine objektive Realität außerhalb der Möglichkeit des menschlichen Wahrnehmungssystems steht, dies aufgrund biologischer Determinanten sowohl als auch kognitiver Operationsabläufe, so scheint man damit eine seriöse, intersubjektiv belegbare Interpretation ihres archimedischen Punktes zu berauben, ein Umstand, der ihr gleichzeitig das Prädikat der Wissenschaftlichkeit unweigerlich aberkennen würde. Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse besteht im Verzicht auf den archimedischen Punkt, in dem Zugeständnis also, daß wir nur mit Gegenständen arbeiten können, die sich im ständigen Wandel befinden. Dies gilt für sozio-kulturell modifizierte Konventionen und Wahrnehmungsschemata, für die semantische Besetzung der Zeichen und nicht zuletzt auch für das Wahrnehmungssystem des Rezipienten. Diejenigen Faktoren, die generell für ein interpretatorisches Vorhaben als Angriffspunkte zur Verfügung stehen, heißen in erster Linie Perspektive, Konvention und die durch diese strukturierte "Konventionslandschaft" oder der "Konventionspool" des jeweiligen Rezipienten. Die vorangegangenen Überlegungen machen deutlich, daß sich herkömmliche Interpretationsmodelle einer umfassenden und kritischen Prüfung der ihnen zugrundeliegenden Fragestellung nicht mehr entziehen können. Niklas Luhmann verwirft das traditionelle Kommunikationsmodell Sender-Botschaft-Empfänger und die mit diesem einhergehende Übermittlungs- bzw. Übertragungsmetapher zugunsten des Modells der strukturellen Kopplung: Es wird keine Botschaft von einem Subjekt zum anderen übermittelt. Das Mitgeteilte bewegt sich nicht aus dem Sender heraus in den Empfänger, da es ersterem ja nicht verloren geht. Kommunikation geschieht hingegen vielmehr, indem verschiedene selbstreferentielle Systeme aneinanderstoßen oder -reiben und sich in diesem Vorgang gegenseitig deformieren. Ein auf diese Weise von einem anderen System verabreichter Impuls wird im stimulierten System mit Hilfe der internen Mechanismen umgesetzt und führt somit zu einer systemspezifischen Bewegung. Es gibt keine Übertragung, sondern allenfalls einen "Eindruck" auf der Systemoberfläche, der die gesamte systemeigene Mechanik verschiebt und somit zu einem systeminternen Ablauf führt. Ein Impuls des stimulierenden Systems veranlaßt das stimulierte System zu einer "koordinierten Verhaltensweise"(1) - wie eine angeschlagene Gitarrensaite, die die entsprechende Saite einer anderen Gitarre in Schwingungen versetzt. In unserem Zusammenhang soll vor allem Luhmanns Unterscheidung zwischen Medium und Form von Interesse sein. Das Medium als Masse locker verknüpfter Elemente erlaubt demnach einen gewissen Spielraum hinsichtlich der jeweiligen Kopplung dieser Elemente. Die im Zuge dieser Kopplung generierte Form stellt lediglich eine mögliche Verknüpfung ausgewählter Elemente dar. Als Beispiel soll hier der Computer dienen. Eine virtuelle Benutzeroberfläche, wie sie von einem beliebigen Programm oder Betriebssystem bereitgestellt wird, bietet dem Benutzer eine Auswahl an Optionen in Form von Ausführungsbefehlen, Schaltflächen etc. Das verwendete Programm verknüpft also bestimmte Elemente oder Kompetenzen des Computers und verdichtet diese in einer virtuellen Benutzeroberfläche, die jedoch niemals die Gesamtheit der Funktionen und Möglichkeiten des Computers umfaßt und zur Auswahl stellt. Auf der Ebene der bedingungslosen Auswahl operiert allenfalls der Programmierer. Der "normale" Benutzer hat jedoch in der Regel keinen Zugriff auf die Ebene des Mediums "an sich". Er arbeitet mit medialen Formen, also mit Benutzeroberflächen. Er operiert auf der Ebene eines Mediums "zweiter Ordnung". Der Benutzer läuft also ständig Gefahr, das Medium mit der medialen Form zu identifizieren, eben jener Effekt, der bereits hinsichtlich der Verwechslung von Konvention und Realität angeführt wurde. Ebenso wie die Konvention kann die mediale Form niemals die Gesamtheit der sie speisenden Instanz umfassen. All diese Überlegungen lassen für die Vorgehensweise einer effektiven Medienanalyse folgende Schlüsse zu: Es bringt überhaupt nichts, sich bei einer solchen Analyse lediglich auf die jeweilige Semantik, also traditionell orientiert auf den "Inhalt" oder die "Botschaft" des Mediums zu konzentrieren. Diese Vorgehensweise macht allenfalls Sinn, wenn man andere Schwerpunkte mit einbezieht und die jeweilige semantische Besetzung, die sich auf der Ebene der medialen Form abspielt, vor dem Hintergrund dieser anderen Schwerpunkte untersucht, denn "die eigentlichen Effekte der Medien liegen nicht auf dem Niveau ihrer Semantik." (2) Andererseits ist es klar, daß der einzige Zugang zum Medium eben über die Form führt. Denn das Medium wird erst durch den kommunikativen Gebrauch konstituiert. Dieser kommunikative Gebrauch jedoch geschieht auf der Ebene der Form. Der Medienanalyse bleibt demnach keine andere Wahl, als auf der Ebene der medialen Form anzusetzen. "Medien lassen sich (...) nicht unabhängig von den Formen, die sich in sie einprägen, und den Komponenten, aus denen sie sich zusammensetzen, beschreiben." (3) Die mediale Form aktualisiert hierbei jedoch lediglich einen Teil oder eine Region des Mediums, indem sie diese für den Benutzer oder Standardbeobachter sichtbar macht. Sie bildet also gleichsam nur die Spitze des Eisberges. Konzentriert sich eine Analyse nun ausschließlich auf die semantische Besetzung oder den Inhalt dieser Region, so wird sie lediglich deren "semantisches Innenleben" erforschen können, ohne über dessen Grenzen hinaus zu gelangen. Der analytische Weg zum Medium hingegen führt über den strukturellen Aufbau, über die in der medialen Form aktualisierten Wirkungsstrukturen. Angesichts dieser Überlegungen scheint mir die Verwendung eines strukturalistischen Ansatzes ausreichend gerechtfertigt. Es stellt sich nun die Frage, in welcher Weise ein solcher Ansatz zu modifizieren wäre und auf welche Komponenten der medialen Form er angewendet werden muß, um Perspektiven auf die Ebene des Mediums zu eröffnen. Der Strukturalismus hält in erster Linie das Kriterium der Wissenschaftlichkeit hoch. Er strebt die maximale Verlagerung vom Bereich der Interpretation (subjektiv belegt) auf denjenigen der Analyse (intersubjektiv/objektiv belegt) an. Diese Tatsache sollte jedoch nicht voreilig als Symptom einer klassischen Methodologie interpretiert werden, die nach dem Prinzip vom letzten zureichenden Grund arbeitet. Mir geht es hier namentlich um die theoretischen Bemühungen von Michael Titzmann(4). Dessen Überlegungen zum kulturellen Paradigma wären mit Hilfe der Lenkschen Ausführungen zur Anwendung von Schemata(5) weiter zu differenzieren. Eine solche Vorgehensweise unternimmt den Versuch, im Text festgelegte semantische Strukturen nachzuvollziehen, um somit gleichsam das zugrundeliegende "Bedeutungsgerüst" freizulegen und nachzubauen. Gemeint sind jedoch keinesfalls solche Bedeutungsdaten, welche im Text irreversibel verankert und mit diesem untrennbar verschmolzen wären. Die semantische Struktur sollte vielmehr als ein "Leerstellensystem" begriffen werden, dessen Besetzung je nach kulturellem Hintergrund und Rezipienteneigenschaften variieren kann. Wenn Menschen ihr Leben nach vorgegebenen Verhaltensmodellen organisieren, wenn alles, was wir tun also gewissermaßen Nachahmung ist, so findet die Untersuchung der semantischen Struktur in der Erforschung solcher vorgegebenen Muster und Konventionen ihren wesentlichen Aufgabenbereich. Die Konvention, das Schema, der "semantische Konsens", das kulturelle Paradigma oder wie man es auch immer nennen will, dient hier als Realitätsersatz in dem Sinne, daß das Vordringen zu einer absolut objektiven Wahrheit oder Realität aufgrund der Abgeschlossenheit des menschlichen Wahrnehmungsapparates nicht möglich ist. Dieser Wahrnehmungsapparat arbeitet selbstreferentiell. Jede Weltwahrnehmung ist also prinzipiell als radikal subjektiv zu bezeichnen, sie orientiert sich jedoch an vorgegebenen Modellen, an eben jenen semantischen Paradigmen, die, wenn nicht ausschließlich, so doch sicher in einem wesentlichen Ausmaß von den Medien (der Begriff hier im weitesten Sinn verstanden) gestellt werden. Menschen erfinden Apparate zur Datenspeicherung, die sie anschließend mit ihren Konstruktionen speisen. Die somit ausgelagerte Konstruktion erhält in diesem Vorgang einen statischen Aspekt. Die sich im Vorstellungsbewußtsein des lebendigen Subjekts ereignende Konstruktion bleibt dynamisch, sie unterliegt dem ständigen Wandel, da sie vom ebenfalls dynamischen Erfahrungshintergrund des Subjekts ständig modifiziert wird. Erfahrungshintergrund und Konstruktion sind also in steter Veränderung begriffen und bedingen sich gegenseitig. Der Erfahrungshintergrund stellt die Basis für die konstruierende Tätigkeit. Die so entstandene Konstruktion wirkt sich wiederum strukturierend auf die Prozesse der Erfahrungsaufnahme und -Verarbeitung aus. Ich gehe vorerst von der sicherlich etwas überspitzten Annahme aus: alles, was Menschen machen, ist Zitat. Menschen können nur das denken, sehen, verkörpern und instrumentalisieren, was ihnen vorgegeben wird, das absolut Innovative existiert nicht. Menschen beeinflussen sich unweigerlich gegenseitig, indem jeder dem Anderen seine "private" Konstruktion vorspielt oder vorlebt. Im Zeitalter der Massenmedien interessiert im zuvor skizzierten Zusammenhang nun vor allem die Frage, ob diese wechselseitige Einflußnahme sich noch vorherrschend zwischen einzelnen Menschen ereignet, oder ob solche Konstruktionen in Form von Lebensmodellen in erster Linie von den Medien vorgegeben werden. Alles, was diese vermitteln und beinhalten, zeichnet sich durch enorme Großflächigkeit aus. Welcher einzelne Mensch vermag es, mit dem gewaltigen Informationsapparat des Fernsehens zu konkurrieren? Ist die Entstehung kultureller Formationen überhaupt möglich, wenn der Mensch sich nur auf sich selbst und die mediale Ausrüstung seines Körpers verläßt? Die Tatsache, daß erst die Erfindung der Schrift die Entstehung staatlicher Organisationsformen ermöglichte, spricht eher für das Gegenteil. Die Medien organisieren unser Leben. Erst die Medien machen individuelle Lebenskonstrukte zu Konventionen. Erst die Medien ermöglichen weltanschauungsmäßige kulturelle Einheiten wie Religionen, Staaten, Ideologien, Wirtschaftskonzerne oder Sekten. Das Medium generiert den Konsens, durch den sich eine solche Einheit definiert, der ihr zugrundeliegt und mit dem sie arbeitet. Ein im Medium gespeichertes Lebenskonstrukt ist nicht konkret, es gleicht einem skeletthaften Gebilde, das erst durch die Instantiierung (Lenk) von seiten eines Subjekts zum Leben erweckt wird. Medien spielen also schematische Lebenskonstrukte vor, die erst vom Rezipienten "aktualisiert" oder "konkretisiert" werden. Eine Inhaltsanalyse sieht sich daher nicht der Aufgabe gegenüber, die Verankerung des "Textes" in der realen Außenwelt aufzuzeigen, sondern vielmehr derjenigen, das im Medium gespeicherte Schema zu untersuchen und es mit den im jeweiligen kulturellen Hintergrund präsenten Schemata zu vergleichen. Es kommt also darauf an, zu überprüfen, welche Schemata in welchem Ausmaß durch das Medium simuliert, instrumentalisiert und stilisiert werden. Aufgabe einer strukturalistischen Textanalyse wäre es in diesem Zusammenhang, zu untersuchen, welche semantischen Besetzungen der "Text" aufgrund der ihm eingeschriebenen Schemata vor einem bestimmten kulturellen Hintergrund aufzurufen nahelegt. Welches Schema wird angeboten? Mit welchen Schemata aus dem jeweiligen kulturellen Hintergrund gelangt es mehr oder weniger zur Deckung? Und schließlich: Wie wird das kulturelle Schema gewöhnlicherweise semantisch besetzt und inwiefern werden Aspekte dieser Besetzung durch die bloße Verwendung des betreffenden Schemas suggeriert? Diese Vorgehensweise würde sich beispielsweise für die Untersuchung von Werbespots anbieten. Der Wiedererkennungseffekt wird hier gewährleistet, indem man Lebenskonstrukte bewußt zu Klischees hochstilisiert. Ausgehend von der Untersuchung der medialen Form in Gestalt von Schemata und deren Besetzung wäre ein strukturalistischer Ansatz à la Titzmann in zwei Richtungen ausbau- und anschlußfähig: 1. In der Richtung des Rezipienten anhand der Untersuchung von Wirkungsstrukturen (>Rezeptionsästhetik): In einem ersten Schritt wäre die semantische Besetzung der medialen Form anhand eines konkreten Beispiels zu untersuchen. Ein zweiter Schritt hätte dann die Strukturierung bzw. das zugrundeliegende Schema dieser semantischen Besetzung zum Untersuchungsgegenstand. Schließlich käme es darauf an, die Fortsetzung dieser Struktur in Richtung des Rezipienten zu verfolgen. 2. In der Richtung des Mediums: Ebenfalls von der Untersuchung der semantischen Besetzung ausgehend, ließe sich die Fortsetzung der aus dieser ersichtlichen Struktur auf die Ebene des Mediums nachverfolgen. Das Verhältnis von medialer Form und Medium wäre hier ähnlich anzusetzen wie dasjenige von Rezipient und medialer Form. Marshall McLuhan begreift jegliches Medium als eine Ausdehnung ("Extension") menschlicher Kompetenzen, also als eine artifizielle Verlängerung unter anderem auch der Sinne. Diese Vorstellung impliziert das Vorhandensein eines Umschlagpunktes oder einer nach beiden Seiten abgeschlossenen Grenze, die das Aufeinanderstoßen von menschlichem Wahrnehmungsapparat und artifiziellem Medium markiert. In den vom Medium aufgemachten Kanälen wäre somit ein Negativabdruck der Wahrnehmungstendenzen des Benutzers manifestiert. Man stelle sich das artifizielle Medium hierbei zunächst als mediale Form zweiter Ordnung vor, die aus der medialen Form erster Ordnung (= Rezipient) Komponenten selektiert und diese abermals mit gesteigerter Rigidität koppelt. Das artifizielle Medium kann demnach niemals den Gesamtumfang der Wahrnehmungskompetenzen des Rezipienten im Negativ verkörpern. Der Prozeß der rigiden Koppelung geschieht also in beiden Richtungen: Von der Realität oder Realitätskonstruktion hin zum Rezipienten und gleichzeitig vom Rezipienten aus in der Richtung der Realitätskonstruktion. Dieser Umstand, so fantastisch er zunächst klingen mag, erklärt vorzüglich den von McLuhan so beharrlich beschworenen und für seine Überlegungen grundlegenden Wechselwirkungs- oder Feedbackeffekt zwischen Gesellschaft und Medien. McLuhan beharrt eindringlich und unermüdlich auf diesem Phänomen, ohne jedoch letztendlich eine plausible Erklärung zu liefern. Die Frage, wie es denn eigentlich möglich ist, daß nicht nur wir die Medien, sondern die Medien auch uns modifizieren, umstrukturieren, in gewissem Sinne vielleicht sogar konstruieren, kann er nicht beantworten. Denkt man im Sinne Luhmanns nach dem Prinzip der Rigidität, so könnte die Antwort lauten: Daß die Medien uns verändern, ist nur möglich, wenn wir mit ihnen bis zu einem gewissen Grad die Rollen tauschen, also wenn das Medium gewissermaßen agieren kann wie ein Rezipient. Natürlich sind artifizielle Medien keine Lebewesen, sie können von sich aus keine Innovation anstoßen. Wir ermöglichen es ihnen jedoch, indem wir ständig gegen sie anrennen und uns an ihnen stoßen und reiben. Die Dynamik geht von uns aus. So gesehen sind wir es selbst, die dem Medium die Fähigkeit verleihen, uns zu beeinflussen und zu verändern, indem es die Energie, die wir bei unserem Agieren aufwenden, reflektiert und gegen uns kehrt. Plötzlich sind wir das Medium, und das Medium, als eine Art "Cyber-Rezipient", formt uns. Der Begriff "Medienethik" erscheint hier in einem völlig neuen Licht. Wenn ich gegen eine Wand renne und mir dabei ein blaues Auge zuziehe, so werde ich wohl nicht ernsthaft daran denken, die Wand anzuzeigen. Ein wahrgenommener Gegenstand kehrt dem Rezipienten eine gewisse Auswahl an Zugriffsperspektiven entgegen, indem er in einer bestimmten Anzahl von Wahrnehmungsbereichen präsent ist. Begreift man das artifizielle Medium als Negativabdruck jeweils einer bestimmten Auswahl an Komponenten des menschlichen Wahrnehmungssystems, so spielt es bei der Analyse zunächst eine enorm wichtige Rolle, zu klären, welche grundlegenden menschlichen Wahrnehmungskompetenzen durch das jeweilige Medium unterstützt werden. Ferner stellt sich die Frage, welche Aktualisationsoperationen der Rezipient im jeweiligen Wahrnehmungsfeld unternimmt. Das Wahrnehmungsfeld stellt wiederum nach dem Luhmannschen Prinzip eine lose gekoppelte Ereignismenge dar, aus der der Rezipient Komponenten selektiert, um diese in rigiderer Kopplung zusammenzuführen. Die Unterscheidung zwischen Medium und Form geht also einher mit einer entsprechenden Verschachtelung der Perspektiven, die sich dem Rezipienten entgegenkehren. Je loser gekoppelt das jeweilige Medium als Ereignismenge erscheint, desto größer bzw. unschärfer wäre das durchschnittliche Blickfeld der auf seiner Ebene aufgemachten Perspektiven zu denken. Jede Perspektive beinhaltet also zunächst ihr untergeordnete Perspektiven, die das von der ersteren aufgemachte Wahrnehmungsfeld jeweils teilweise aktualisieren, indem sie bestimmte Regionen des Feldes fokussieren. Gleichzeitig ist sie jedoch auch Bestandteil einer Gruppe, die ihrerseits unter einer übergeordneten Perspektive zusammengefaßt wird. In der Analyse kann jegliche Perspektive freilich nur von dem durch sie abgedeckten Blickfeld aus "nachkonstruiert" werden, die Untersuchung des Zugriffssystems muß also von demjenigen Gegenstand ausgehen, der es generiert oder aufmacht. Die Unmöglichkeit der Erkenntnis der Perspektive "an sich" demonstriert aufs neue den Umstand, daß der Medienanalyse keine andere Wahl bleibt, als beim "Inhalt" bzw. der jeweils sichtbaren medialen Form anzusetzen, um Schlüsse auf das dieser zugrundeliegende Medium ziehen zu können. Ohne "Inhalt", wahrgenommenem Gegenstand oder sichtbarem Blickfeld existiert keine Perspektive. "Die Medialität eines Mediums ist unbeobachtbar." (6) Menschen formen artifizielle Medien, indem sie eine Auswahl ihrer Wahrnehmungskompetenzen technisch aktualisieren und somit einen oder mehrere ihrer Sinne mit Hilfe des jeweiligen Mediums "verlängern" oder "ausdehnen". Der Mensch koppelt also einen Bereich der Ereignismenge seiner gesamten Wahrnehmungskompetenz mit gesteigerter Rigidität im Medium, indem er diesem die Eigenschaft verleiht, bestimmte Perspektiven bereitzustellen. Im Zuge der Benutzung des so entstandenen Mediums werden dann lediglich diejenigen Wahrnehmungskompetenzen des Rezipienten beansprucht, die vom perspektivischen System des Mediums unterstützt werden. Das Medium "selektiert" also eine Auswahl an Sinneskompetenzen des Rezipienten. Diese ausgewählten Kompetenzen werden beansprucht und somit "trainiert", während die vom Medium nicht unterstützten Bereiche brachliegen und gewissermaßen einem Prozeß der Verkümmerung freigegeben sind. Führt man sich die Entwicklung der Massenmedien seit der Erfindung des Buchdrucks vor Augen, so scheint der Umstand bemerkenswert, daß sich Kommunikationsmetaphoriken zunehmend in Form von technischen Konstruktionen, also auf einer konkreten lebensweltlichen Ebene manifestieren. Kommunikative Modelle und Strukturen werden im Informationszeitalter zunehmend durch die Realisation technischer Medien konkretisiert und im wahrsten Sinne des Wortes in die Lebenswelt gestellt. Die Konzepte technischer Medien erfahren hierbei eine zunehmende Verfeinerung und Ausdifferenzierung. So ist die klassische Photolinse beispielsweise noch der Funktionsweise des menschlichen Auges nachempfunden, wohingegen dieses Verfahren nun allmählich von digitalen Aufnahme- und Wiedergabetechniken abgelöst wird. Die in diesem Beitrag mehrfach angesprochene "Verschachtelung" medialer Ebenen verschiedener Ordnung manifestiert sich offensichtlich in den technischen Konzepten von Telephon, Fernsehen, Computer usw. Es bedürfte hier freilich einer weiteren Ausarbeitung, um eine generelle Tendenz in dieser Richtung herauszustellen und plausibel zu belegen. Es steht aber doch zumindest fest, daß die zunehmende konkrete Manifestation kommunikativer Prozessierungsformen in technischen Medien eine nie gekannte Möglichkeit bietet, herkömmliche theoretische Kommunikationsmodelle zu überprüfen und ggf. anzugleichen. |
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