Medienpassion, Medientheorie, Funktion von Medien


Bernd Scheffer

Medien als Passion (Einleitung)

Warum sind Menschen seit jeher derart hinter den Medien her? Eine der möglichen Antworten lautet: Medien ermöglichen Lebenssteigerungen in allen nur denkbaren Ausprägungen. - Der folgende Artikel stellt die Einleitung zu einem gleichnamigen Buch dar. Es geht u. a. darum, ausufernde, vernachlässigte oder diffus gewordene Fragen nach der Funktion von Medien wieder auf einige Kernfragen zuzuspitzen und diskutable Antworten dabei voranzutreiben. (Im Anschluß an diesen Artikel entstand: Reiner Matzker "Mediale Lebenssteigerungen - das Werther-Syndrom Anmerkungen zu Bernd Scheffers „Medien als Passion“)



Warum sind Menschen seit jeher derart hinter den Medien her? Warum ist Bewusstsein seit jeher auf Medialität angewiesen? Medien können das Bewusstsein - ähnlich wie Liebe - über seine Geschlossenheit, über seine Abgrenzung von der Welt und von der Welt anderer großartig (hinweg)täuschen. Mediennutzung verspricht dem Bewusstsein die Überwindung seiner Isolation. Um das ungeheuere Interesse an Medien (welcher Art auch immer) zu erklären, muss man mehr Gründe nennen als nur das Bedürfnis nach Unterhaltung und Information. Hinausgehend über diese oft genannten Funktionen wie etwa Unterhaltung und Information, hinausgehend über ihren technischen Nutzen tragen Medien stets dazu bei, das „Hier und Jetzt“ des jeweiligen Lebens, die jeweiligen Routinen alltäglichen Fühlens und Handelns zu überbieten. Zu keiner Zeit, von der wir wissen, gaben sich Menschen mit ihrem „Hier und Jetzt“ allein zufrieden; sie erwarten (erhoffen und befürchten) Steigerungen. Kein Mensch hält es ohne Unterbrechung im „Hier und Jetzt“ aus; ein solcher Fall ist jedenfalls nie dokumentiert worden. Zum Glück/zum Unglück gibt es die Medien. Überall lässt sich ein energisches Streben nach Lebenssteigerung beobachten, überall zeigen sich einfache oder aufwendige Versuche, sich aus dem „Hier und Jetzt“ wegzuträumen.


Alltägliche Steigerung, Passion

Das Verlangen nach Lebenssteigerung kann offenbar (fast) nur noch im Zuge einer Mediennutzung bedient werden - in ebenso einprägsamen, wie kurzfristigen, in ebenso herausragenden, wie vor allem auch alltäglich-banalen Medienerlebnissen. Diese Lebenssteigerungen sind nicht mehr als grandiose, erhabene ästhetische Gegensetzungen zur Alltagswelt zu verstehen, sondern eher als ganz normale, jedenfalls profane, alltägliche Prozesse im Zuge eines fortwährenden Umgangs mit Medien. Lebenssteigerung meint also im vorliegenden Versuch nicht etwas, was einzelne Medien im generellen Prozessieren von Zeichen dann auch noch gelegentlich einmal machen können (in „erhabenen“, meisterlichen Ausnahmen, die wir „große Kunstwerke“ nennen würden), sondern Steigerung ist von vornherein als Regelmäßigkeit, als Routine angelegt. Wo immer Medialität zu beobachten ist, lassen sich auch Steigerungsstrukturen finden. Antworten auf die Frage, warum Menschen seit jeher hinter den Medien her sind, gewinnt man also vor allem auch dann, wenn man Medien-Erfahrungen nicht nur mit herausragenden, mithin äußerst seltenen Groß-Ereignissen verbindet, sondern vor allem mit normalen, üblichen, ja geradezu unauffälligen Dauer-Ereignissen. Das kann auch eine Fernsehserie sein oder die Theateraufführungen, die das Abonnement bieten, oder der Gang ins Kino zu der Aufführung der neuen Filme, die in die Stadt gekommen sind, auch besondere Konzerte oder besondere Sportveranstaltungen - wofür immer man gesteigertes Interesse aufbringt, worauf man mit gespannter Erwartung blickt. Man muss nicht unbedingt ein Jahrhundert-Ereignis im Kunst- und Medienbereich nennen, um zu veranschaulichen, dass Lebenssteigerungen gewissermaßen andauernd etwas mit großen, jedenfalls intensivierten Gefühlen zu tun haben; es genügt ein mittlerer Film wie „Das Wunder von Bern“ (Sönke Wörtmann 2003) oder der eine oder andere Kriminalroman von Henning Mankell oder (wenn man es denn überhaupt gefühlsmäßig und körperlich erträgt) „Deutschland sucht den Superstar“. Jeder oder jede kann hier nach seinen eigenen, mittleren oder kleinen (Medien-) Fluchten suchen.

Die neuen und neuesten multimedialen Medien-Angebote erweitern die Möglichkeiten der alten Bilder und Töne; sie sind mit deren herkömmlichen Eigenschaften nur noch eingeschränkt vergleichbar. Welche Tendenzen lassen sich skizzieren, die die Situation der Mediennutzung des modernen Bewusstseins charakterisieren? Bedeutsamen ist zunächst vor allem der an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert verstärkt zu beobachtende Versuch der Kunst und der neu aufkommenden Medien (zunächst Film, Radio, Fernsehen, später dann der elektronischen Medien), gewissermaßen dem Leben selbst „die Schau zu stehlen“. Die Anstrengungen, die zuvor meist einer Nachahmung des Lebens galten, werden nun zunehmend abgelöst von Kunst- und Medienangeboten, die das Bewusstsein zu dem Verdacht reizen sollen, sein „Hier-und-Jetzt“ sei ein einziges Versäumnis, das eigentliche Leben spiele sich in der Kunst und in den Medien ab. Jede Gruppierung, die mit einigem Recht (und freilich auch einiger Skepsis) als Avantgarde verstanden werden kann, betreibt eine jeweils forcierte Überschreitung der Grenzen von Kunst und Leben. Die spätestens um 1800 nachweisbare Subjektkonstituierung mit den Mitteln von exklusiver Kunst und Literatur scheint heute eine Domäne der Massenmedien geworden zu sein. Medien, hauptsächlich Medien tragen zur Subjektbildung bei.

Die bis heute aktuelle Idee des Gesamtkunstwerkes lässt sich in diesem Zusammenhang nennen; ebenso die futuristischen Versuche, die Technik der Maschinen zum Impulsgeber der Lebens“kunst“ zu machen, sogar noch den Krieg als unübertrefflicher Kunstveranstaltung zu verstehen (hier nimmt eine Linie ihren Ausgang, die auch noch die gegenwärtige Situation eines starken Zusammenhangs zwischen Medien und Terrorismus kennzeichnet). Die Grenzüberschreitungen zwischen den herkömmlichen Kunstgattungen hatten unter anderem das Ziel, der gewissermaßen von vornherein multimedialen Situation des Lebens zu entsprechen: Die durch Medialität bedingte Verwechselbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion erwies sich nun als entscheidende Triebkraft für einen kulturellen und gesellschaftlichen Wandel. Gefühls- und Körpererfahrungen können jetzt bevorzugt dann hervorgerufen werden, wenn man Medien nutzt und sich eben damit vom tatsächlichen Leben entfernt. Die Verwechslungen von Mensch und Maschine in vielen Büchern, vor allem aber in Filmen und Computerspielen lösen nicht nur Befürchtungen aus, sondern lösen - stärker als je zuvor - auch Hoffnungen ein: Das intensivierte Zusammenspiel von Schrift und Bild, zum Beispiel, entwickelte sich zu einem willkommenen/unwillkommenen Angriff auf die Vorherrschaft der Schrift, auf die Annahme von der „Lesbarkeit der Welt“.


Mediennutzung als Sucht?

Menschen sind seit je derart hinter den Medien her, nicht obwohl, sondern gerade weil sich deren Angebote immer wieder von neuem dem direkten Zugriff durch das Bewusstsein entziehen, weil das, was die Medien darbieten, zwar (im wörtlichsten Sinn) alles Mögliche verspricht, aber es auch nie hält bzw. gar nicht halten kann. Medien-Kommunikation kann gar nicht das halten, was sich das Bewusstsein verspricht und Bewusstsein ist unfähig, das einzulösen, was Kommunikation, was Medienproduktion erwartet. So erzielt Mediennutzung zwar Lebenssteigerungen, doch kommen diese Steigerungen grundsätzlich an kein greifbares Ziel. In dieser einen Hinsicht, in diesem Kreislauf von dauerndem Versprechen bzw. dauernder Erwartung einerseits und dauernder Nicht-Einlösung andererseits macht der Medienkonsum gewissermaßen „süchtig“, weil immer nur in kurzfristigen Selbsttäuschungen „satt“. Der unvermeidliche Rückfall nach dem Medienkonsum in ein meist eher steigerungsarmes Alltagsleben stärkt wiederum den Wunsch nach „Rettung“, nach Überbietung, und so ergibt sich ein Kreislauf, der nicht mehr zu durchbrechen ist. Und doch sind Medien (nach dem Rückgang von Religion) eher nicht als „Opium für das Volk“ zu verstehen. Die Drogen-Metaphorik taugt nur eingeschränkt, weil ausnahmslos alle Menschen „süchtig“ zu nennen wären, vor allem aber weil niemand Medienangebote so „einwerfen“ kann, wie sie dargeboten werden; der „Stoff“ wird ja eigentlich auch nicht von „außen“ nicht zugeführt, sondern erst intern synthetisiert - veranlasst durch die Impulse, die Irritationen eines Medienangebots. Drogen wirken chemisch zunächst auf den Körper und treffen erst damit das Bewusstsein. Auch affizieren verschiedene Mediennutzungen den Körper verschieden stark, Musik beispielsweise anders als Literatur. Das grundsätzliche Zusammenspiel von Bewusstsein und Körper kann unterschiedlich stark ausfallen (je nach Medium, je nach Person).

Bei aller Problematik der Drogen- und Suchtmetaphorik, eine Erprobung der Ähnlichkeiten mit der Mediennutzung ist allemal hilfreich. So wird die Mediennutzung zwar einerseits mit demselben Vorwurf verbunden, der auch gegen die Nutzung von Drogen vorgebracht wird: Drogen führten zum Realitätsverlust, zum weitreichenden oder gar katastrophalen Desinteresse am Hier-und-Jetzt, führten zum Eskapismus, also zur Flucht aus der Alltagswirklichkeit. Im Drogenrausch und Medienrausch sei die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion nicht mehr nur verwechselbar, sondern schlicht hinfällig geworden. Wir plädieren beileibe nicht für den unkontrollierten (medialen) Drogenkonsum, indessen kann man eine Art von Gegenrechnung aufmachen; gerade im Hinblick auf Kunst und Mediennutzung gelte es einen Zustand des Bewusstsein zu erreichen, der dem Drogenrausch und dem Wahnsinn durchaus ähnlich sei; so heißt es etwa schon Platons „Phaidros“: „(...) die Teilnahme an dieser Art Wahnsinn ist es, was die Liebe zum Schönen ausmacht, um derentwillen man einen verliebt’ nennt. Denn wie gesagt, jede Menschenseele hat von Natur aus das Seiende geschaut; sonst wäre sie nicht in diese Lebensform eingegangen. Doch wird es nicht einer jeden leicht, von den Dingen hienieden aus sich an die droben zu erinnern.“ Wandsprüche der 60 er Jahre lauteten: „Realität ist etwas für Leute, die mit Drogen (bzw. mit Medien) nicht klarkommen!“


Ko-Produktion von Bewusstsein und Kommunikation

Die Macht der Medien liegt, anders als man bislang meist annahm, paradoxerweise gerade darin, dass sie eben nicht direkt auf ein individuelles Bewusstsein zugreifen (können), sondern sich gleichsam als Selbstläufer jenseits der Subjekte entwickeln (vgl. These 2). Medien trichtern nichts ein und sie können (wenn überhaupt) das Bewusstsein nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen „manipulieren“. Die Macht der Medien liegt nicht in einem direkten Einfluss, sondern darin, dass einzig die Medien die lebensnotwendigen Ko-Produktionen von Innenwelt und Außenwelt, von Subjekt und Gesellschaft, von Bewusstsein und Kommunikation bereitstellen und damit die Voraussetzungen für jene Lebenssteigerungen schaffen, die ohne sie nicht einmal auszudenken wären. Das erklärt dann auch, warum Medien weder allein noch in der Hauptsache für Effekte verantwortlich gemacht werden können, die freilich unübersehbar in einem spezifischen Zusammenhang mit ihnen erfolgt sind. Hunderttausende haben die gleichen Bücher gelesen und die gleichen Filme gesehen, die gleichen Ego-Shooter-Spiele gespielt, und sind weder zu realen Engeln noch zu tatsächlichen Teufeln geworden. Bei aller notwendigen, bei aller willkommenen/verpönten Affizierbarkeit durch Medien - das Bewusstsein bleibt in zentraler Hinsicht unabhängig, es produziert Lebenssteigerungen auf seine eigene Weise. Medien-Kommunikationen können bedauerlicherweise oder erfreulicherweise vom Bewusstsein grundsätzlich gar nicht übernommen werden, sondern werden in stets „eigenwillige“ Bewusstseinsprozesse übersetzt.


... wie im Film

Die mediale Gestaltung der Wirklichkeit, die Erzeugung einer Wirklichkeit, die es ohne Medienpräsenz gar nicht gegeben hätte, eine geradezu ungeheuerliche Verwechselbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion dürfte bei keinem Ereignis so deutlich geworden sein wie beim 11. September 2001. Bei aller Notwendigkeit, von leichten und leichtfertigen Beschreibungen und Erklärungen der damaligen Ereignisse abzusehen, feststehen dürfte schon jetzt, das die Annahme, Medien seien eine in sich geschlossene, vom übrigen Leben restlos getrennte Welt, dass dieser „Baudrillardismus“ nicht mehr zu halten ist.

„Das ist ja wie im Film!“, haben viele von uns gerufen - angesichts der Bilder von den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 oder angesichts bestimmter Life-Aufnahmen vom zweiten Irakkrieg 2003. Realitätserfahrung wird überhaupt erst durch eine vorauslaufende mediale Bearbeitung erzeugt und ermöglicht: Wirklichkeit wird mit Hilfe von Medien neu erkannt und wohl nur noch mit Hilfe der Medien lässt sie sich auch verändern. Können öffentliche und private Handlungen überhaupt noch anders ausfallen als irgendwie mediengerecht? Lehren die Medien uns die Art des Denkens, Fühlens und Handelns? Kann sich denn überhaupt noch etwas Auffälliges in unserer Welt ereignen (vom Liebesglück bis zur gewaltsamen Katastrophe), das nicht in großen Teilen wie eine zitathafte Wiederholung medialer Szenarien erscheint? Und wenn das Mediensystem zunehmend das Politiksystem unterläuft, dann ist in gewisser Hinsicht nur konsequent, dass die Personen, die das Medienspiel besser beherrschen als andere, die Schauspieler und die Medienzaren, zu Realdarstellern in der Politik werden: Ronald Raegan, Clint Eastwood, Arnold Schwarzenegger, Silvio Berlusconi.

Lebenssteigerung meint nicht nur Steigerungen, Intensivierungen in Richtung auf positive Ziele (seien es nun positive Ziele im persönlichen oder gesellschaftlichen Wertsystem), sondern das Konzept der Steigerung, so wie es hier vorgelegt wird, muss von vornherein auch negative Steigerungen vorsehen, also durchaus unerhoffte, befürchtete Ausnahmen innerhalb der alltäglichen Erfahrungs-Routinen: Katastrophen, Gewaltakte, Krankheit, Totschlag und Mord. Immerhin muss hier ja auch das rege Interesse etwa an Kriminalromanen und Kriminalfilmen, an Kriegsdarstellungen, an Katastrophen (Waldbrände, Feuerstürme in den Städten, Erdbeben, Hurricans, Epidemien, private Katastrophen), an Gewaltentaten überhaupt, gewissermaßen die „Lust an der Unmoral“ (Peter von Matt), am Unheimlichen, an allem, was spürbare (gerade auch körperlich spürbare) Abweichungen darstellt, begründet werden.

Es gibt Zusammenhänge zwischen Medien und Terrorismus, die mehr betreffen als nur die Tatsache, dass Medien über terroristische Taten anschließend berichten. So ist der Gedanke gar nicht von der Hand zu weisen, dass die Medien ihrerseits zu den Mitverursachern inszenierter Gewaltakte gehören, dass es weder Medienproduzenten noch Mediennutzer anhaltend schaffen, den mörderischen Spektakeln durch Formen eines gewissen Desinteresses einen Teil des Bodens, auf dem sie gedeihen, zu entziehen. Ein Gewaltereignis und ein Medienereignis wie der 11. September wird man nur verstehen können, wenn man gerade auch hierin die, wenn freilich auch negative Seite einer grundsätzlichen Steigerungsdynamik erkennt.


... weniger Technik, aber doch Menschen

Obwohl es unbestreitbar zahllose Hinweise in diese Richtung gibt, ist ein dezidierter Zusammenhang zwischen Medialität und Lebenssteigerung bislang noch nicht eingehend dargestellt worden; und die ja durchaus verbreitete Behauptung, gerade technische Fortschritte im Bereich der Medien steigerten die Lebensqualität, ist demgegenüber ein fahrlässiges Werbeversprechen der Industrie, das im übrigen selbst bei kleinsten Neuerungen den Faktor Technik allemal überschätzt. Weniger die einzelne Technik, als vielmehr Medialität als solche - „Medialität“ im Sinne von „grundsätzlich vermittelt“ und eben nicht „unvermittelt“ - bedingt die Dynamik der Lebenssteigerung. Die späteren Ausführungen entwickeln sich in Opposition zu einem technischen Medienbegriff.

Knapp zusammengefasst, der anschließenden ausführlichen Darlegung vorausgreifend, lässt sich sagen: Medien bieten Lebenssteigerungen,

  1. weil Medien die Unvereinbarkeit von Bewusstsein und Kommunikation unvergleichbar produktiv nutzen; das ist die zentrale theoretische Annahme, die hier zugrunde gelegt wird;
  2. weil Medien und nur Medien das Bewusstsein irritieren können;
  3. weil Medien und nur Medien die eher unwahrscheinliche Kommunikation zuweilen wahrscheinlicher machen;
  4. weil Medialität konkurrenzlos ist; es gibt nichts anderen als immer nur mediale Lebenssteigerungen;
  5. weil Medien das Bewusstsein nicht gleichschalten können; weil das Bewusstsein sich unter Medien“einfluss“ für frei halten kann;
  6. weil Medien die Ziele der Lebenssteigerung auf der Bewusstseins-Seite nicht selber bestimmen; daher bieten Medien für alle etwas;
  7. weil Medien fortlaufend ihre Grenzen hinausschieben (sie produzieren fortlaufend neue Texte, Töne und Bilder; weil sich durch Veränderungen der Medien die Welt verändert; weil Medien die bis dahin geltenden Erregungsniveaus überbieten);
  8. weil Medien die prinzipielle und produktive Verwechselbarkeit von Wirklichkeit und Fiktion betreiben: „I have a dream“ (Martin Luther King);
  9. weil Medien die ästhetischen Implikationen jeder Wirklichkeits-Konstruktion beobachtbar werden lassen: „.. wie im Film!“;
  10. weil Medien ein gefahrloses Durchspielen mit gesteigerten Szenarien, ein forciertes Probehandeln ermöglichen;
  11. weil Medien keine Konsenspflicht erwarten; weil Mediennutzung „para-sozial“ ist; bei der Mediennutzung redet uns selten jemand drein;
  12. weil Medien die Selbstbegründung des Subjekts und die Ich-Suche und Ich-Findung, ja das Subjekt selbst überhaupt erst ermöglichen;
  13. weil mit Medien nicht „Zeichen pur“ prozessiert werden, sondern Lebens“ideen“;
  14. weil Medien vor allem Gefühl und Köper versorgen; und schließlich
  15. weil Medien ähnlich fungieren wie Liebe: Sie bieten Lebenssteigerungen; sie ermöglichen Unwahrscheinliches; sie vereinbaren Unvereinbares.


... ein eher essayistisches Verfahren

Stellenweise wird das vorliegende Buch dem einen oder anderen kundigen Leser zu grobmaschig, zu unvorsichtig, vielleicht sogar zu pathetisch erscheinen. Das vorliegende Buch behandelt ähnliche Fragen, wie sie andernorts unübersehbar vielfältig bearbeitet worden sind und noch immer bearbeitet werden. Auch dies weckt Erwartungen und birgt zugleich erhebliche Risiken. Aktuelle, längst modisch gewordene Themen wie etwa „Schrift“ und „neuartiges Wissensdesign“ oder auch Schlagworte wie „Visual Turn“, „Iconic Turn“, „Cybernetic Turn“ oder „Digital Turn“ sind zwangsläufig auch für die hier dargelegten Ausführungen von Bedeutung. Die Fragen lauten dort wie hier beispielsweise: Verlieren Sprache, Schrift und Literatur an Einfluss? Entstehen neue, ungeahnte Formen der interaktiven Nutzung von Schrift und Bild? Was sind die erhofften bzw. befürchteten Veränderungen in Kultur, Medien und Literatur? Welche Kommunikationsformen gewinnen an Bedeutung? Welche neuen Lebensentwürfe zeichnen sich ab? Was bedeutet (persönliche) Existenz in der Mediengesellschaft? Wie gestalten sich nunmehr Wirklichkeit und Schein, Realität und Fiktion?

Selbstverständlich kann der eigene Versuch, der eigene allemal begrenzte Beitrag im breiten Feld einer allgemeinen Medienanthropologie/Medienphilosophie/Medienpsychologie bestenfalls einige Markierungen, einige Grundbausteine liefern, an die andere ihrerseits wieder anschließen können. Gegenwärtig sind „Klarheiten“ vielfach nichts anderes als höchst einseitige Mythenbildungen bezüglich der alten oder neuen Medien-Zustände.

Die hier vorgelegten Überlegungen gehen mit der Leitfrage „Warum sind Menschen seit jeher derart hinter den Medien her?“ zwangsläufig über reine Strukturanalysen und reine Theoriedesign hinaus. Solange man Gegenstände, Werke, Angebote, Texte weitgehend wirkungs-unabhängig, weitgehend beobachter- und bewusstseinsunabhängig darstellt, ist man freilich auf der „sicheren Seite“. Das erklärt das Fortleben der rein werkorientierten Methoden wider das bessere Wissen der Beobachter-Abhängigkeit von Gegenstands-Beschreibungen. Wenn man allerdings Rezeptionsaussagen treffen will, wenn man Wirkungen, Effekte zu erklären versucht, dann bietet man freilich (sofern man sich nicht auf empirische Forschungen stützen kann) vermehrt Unterstellungen an. Immerhin lassen sich solche Unterstellungen argumentativ plausibilisieren, und im Übrigen kann eine verstärkte Orientierung an dem, was die härteren Wissenschaften (von der Psychologie bis hin zur Hirnforschung) über Medienwirkungen sagen (und inzwischen oft auch zuverlässig sagen können), viele der puren Mythen über Medien korrigieren, die ja immer noch verbreitet sind. So macht etwa eine pure Übernahme und Fortschreibung der Text-Bild-Differenz, wie wir sie zum Beispiel prominent in Lessings Laokoon-Schrift finden, ohne korrigierende Zusätze kaum noch Sinn. Entsprechende Forschungen haben längst gezeigt: Text und Bild spielen in den Grundfunktionen der Wahrnehmung teilweise sogar ununterscheidbar zusammen.

Selbstverständlich kann auf der Angebotsseite ein Medienangebot „monomedial“ sein (z. B. ein schriftlicher Text ohne nennenswerte typographisch-visuelle Relevanz oder eine Fotographie) und ein anderes Medienangebot multimedial bzw. in der direkten oder indirekten Thematisierung anderer Medien auch „intermedial“ (ein Film, ein Video, eine Computeranimation zum Beispiel), aber auf der Seite der Rezeption, der Wirkung, auf Seiten des Bewusstseins sind Multimedialität und „Intermedialität“ geradezu unvermeidlich, waren „Multimedialität“ und „Intermedialität“ immer schon gegeben (längst bevor technische Möglichkeiten die Vernetzungsmöglichkeiten auch auf der Angebotsseite verstärkt haben). Schon immer gab es für das Bewusstsein ein „Kino ohne Film“, ein „Eyes wide shut“. Das soll freilich wiederum nicht heißen, die Unterschiede der Angebots-Seite machten auf der Bewusstseins-Seite keinerlei Unterschied mehr. Doch es sind andere Unterschiede, die wiederum nicht analog zu dem Ausgangs-Unterschieden konzipiert werden können.

Die Beschreibungen der Medien-Produktseite liefern allenfalls notwendige, keinesfalls aber hinreichende Bausteine bei der Erfassung von Mediennutzungen. Auf der Produktseite sind Bilder, ist etwa die Fotografie zweifellos monomedial und augenblickshaft. Ein Kochbuch, das Speisen lecker abbildet, kann einem das Wasser im Munde zusammen laufen lassen, obschon real nichts vorhanden ist, was wir essen könnten. Semiotisch sind wir alle kompetent genug, die Speisekarte bzw. das Kochbuch dann nicht selbst zu essen. Viele Beispiele zeigen, dass das, was auf der Kommunikations-Seite offenkundig ist, auf der Bewusstseins-Seite aber unmöglich erscheint. So war ein Foto noch nie nur eine „Moment-Aufnahme“; das könnte höchstens „der Fotoapparat selbst“ so sehen, wenn er denn etwas „sagen“ könnte, aber keine der beteiligten Personen kann das so sehen; ein Foto war noch nie nur eine Moment-Aufnahme, weil es keinerlei Situation der Moment-Abnahme (der Moment-Rezeption) geben kann: Unvermeidliche „Sinngebung“ ereignet sich stets in einer Zeit, die über den Moment hinausgeht. Gerade in der fotografischen Moment-Aufnahme, die immer unterhalb der Wahrnehmungsgrenze liegt, wird im Gegenzug die Dynamik des Zeitprozesses erzeugt, gerade in der Stillstellung wird Bewegung zeichenhaft symbolisiert, und das zwangsweise. Erweiterungen des Medienbegriffs hinsichtlich der medialen Kapazitäten sind also angezeigt. Hier setzt das Multimedialitäts- bzw. Intermedialitätskonzepten, das hier auszuführen ist.

Die These von der Lebenssteigerung soll nach Möglichkeit außerhalb von solchen, ihrerseits nicht unproblematischen Assoziationsfeldern wie „Lebensphilosophie“ oder „Vitalismus“ platziert werden. Selbstverständlich gibt es Anschlussmöglichkeiten und Überschneidungsbereiche mit Überlegungen etwa von Schopenhauer, Nietzsche, Bergson, u.v.a. beispielsweise auch bis hin zur „Wunschmaschine“ von Gilles Deleuze; indessen soll hier nicht nur eine philosophisch-theoretische, sondern gerade auch eine empirische Bekräftigung der lebenssteigernden Mediennutzung erprobt werden (vor allem anlässlich der Darlegung von Beispielen) - etwa gegenüber einer expliziten Darlegung und Diskussion der irrationalen oder zum Teil sogar faschistischen Steigerungsimplikationen im Umkreis der Lebensphilosophie).

Die These von der Lebenssteigerung bei Mediennutzungen hat ihr Risiko zunächst eher darin, dass bei ihrem umfassenden Geltungsanspruch nicht sogleich schon die Bedingungen dessen genannt sind, wann Steigerung denn einmal ausbleibt. Thesen, die nicht scheitern können, sind ja keineswegs brauchbarer, als die von begrenzter Reichweite. Doch auch wenn der allgemeine Anspruch „Mediennutzung bedeutet Lebenssteigerung“ hier gewahrt bleiben soll, spricht nichts dagegen - wiederum bei beispielorientierten, eher empirisch ausgerichteten Überlegungen - einzelne Steigerungsgrade zwischen „minimal“ und „maximal“ vorzusehen.


Medientheorie(n) immer noch am Anfang

Bekanntlich gibt es in der noch ungeschriebenen Geschichte der Medienwissenschaft unzählige Versuche zu einer Medientheorie und es finden sich auch mehr als ein Dutzend mehr oder weniger klassisch gewordener Medienwirkungstheorien (von denen die allermeisten inzwischen als einigermaßen unbrauchbar gelten). Selbstverständlich zeichneten sich in den letzten Jahren beträchtliche Verbesserungen gegenüber früheren Versuchen ab, sowohl was die theoretische Konsistenz anbelangt, als auch was die Erklärungsmöglichkeiten hinsichtlich der Medienpraxis betrifft. Vor allem von systemtheoretischen Ansätzen profitiert auch das hier vorliegende Unternehmen; von einem Durchbruch oder Paradigmenwechsel wird man dennoch nur zögerlich sprechen wollen. Eine elaborierte und allgemein akzeptierte Medientheorie bleibt also vorerst weiter unabsehbar. Nach wie vor fehlen gerade auch Beschreibungen der Praxis des neuen, multi-medialen Zeichengebrauchs. Es fehlt ein umfassendes, ganzheitliches Konzept der neuen Seh-, Sprech-, Schreib- Hör- und Denkweisen.


Systemtheorie, Psychologie, Metaphysik

In unseren Darlegungen werden unterschiedliche Begriffstraditionen und Begriffssysteme miteinander verbunden. Bereits im Titel „Medien als Passion“ deutet sich an, dass hier etwas zusammengebracht wird, was bislang nicht zusammengebracht worden ist oder als unvereinbar gelten sollte: Ein system- bzw. medientheoretisches und ein psychologisches bzw. manchmal auch metaphysisches Vokabular. Doch eine solche Ausweitung ist als interne Spannung schon in der Systemtheorie angelegt. Man kann in der Tat zeigen, dass das systemtheoretische Medienkonzept auf das Begriffsfeld von „Passion“ und sogar „Transzendenz“ hintreibt.

Zentrale Kategorien des vorliegenden Versuchs wie Bewusstsein oder auch wie Passion, Liebe, Emotion, Körper und vor allem „Medialität“ sind in besonders starkem Maße durch weitreichende Unbeobachtbarkeit charakterisiert. Bewusstsein ist bekanntlich ein Black Box. Bewusstsein oder Liebe finden bekanntlich nicht (mehr) statt, sind genau dann unerreichbar, wenn sie reflektierend beobachtet werden. Deren Beschreibungen sind ja nicht der Vollzug, die Sache selbst. Wer als Beteiligter seine Liebe beobachtet, hat sie verloren - jedenfalls für den Moment, eben durch den Wechsel der Ebenen. Auch Medien sind, zumindest in ihrem Vollzug, unsichtbar, unbeobachtbar. Andererseits lassen sich bei solchen unverzichtbaren Konstrukten durchaus plausible und zusätzliche Unterstellungen machen, wie etwa diejenige, Mediennutzung sei deswegen nicht unähnlich der Liebeserfahrung, weil jeweils Unvereinbares vereinbart werde, nämlich Kommunikation und Bewusstsein, weil also bei jeder Mediennutzung die als Täuschung effektive Erfahrung von an sich unmöglichen Grenzüberschreitungen gemacht wird. Wenn es uns anlässlich einer Mediennutzung kalt den Rücken herunter läuft, wenn wir Gänsehaut bekommen, wenn Transpiration und Herzfrequenz zunehmen (beim „Thriller“), wenn wir in Tränen ausbrechen oder wenn uns die Wut packt, dann können wir oft genug unterstellen, das Bewusstsein und Körper eben das vollziehen, was wir Lebenssteigerung nennen. Wenn wir gleichsam in die Hände schlagen und rufen „That’s it!“, dann veranschaulichen wir zugleich das, was mit Lebenssteigerung, mit „Medien als Passion“ gemeint ist.


Beispiele aus Video- und Computerkunst

In diesem Buch werden, wie schon gesagt, mehrere unterschiedliche, bislang meist auseinander laufende Überlegungen und Begriffsfelder miteinander verbunden: Überlegungen zur Macht, aber gerade auch zur Ohnmacht der Medien; Überlegungen zu einem, durch die neuen Medien veränderten Zeichenhandeln im Rahmen der „Lesbarkeit / Unlesbarkeit der medialen Welt“; Überlegungen zu den gegenwärtig beobachtbaren Veränderungen des Zusammenspiels von Schrift und Bild (und Ton). Die konkreten Beispiele, auf die verwiesen wird, stammen häufig aus der Video- und Computerkunst, aus Musikvideos und Werbespots, denn bei diesen Medienproduktionen kann, so die Überlegung, ausgerechnet die Darbietung von Schrift nicht mehr mit einem wie auch immer literaturtheoretisch oder dekonstruktivistisch ausgeweiteten Text- bzw. Schriftparadigma hinreichend erfasst werden. Berechtigt erscheinen also, wenn auch nicht gänzlich neue, so doch erheblich verschärfte Zweifel an den umfassenden und exemplarischen Möglichkeiten der sprach-, text-, schrift- und literatur-basierten Lesbarkeit der Welt, ja an der Beibehaltung der Metapher der „Lesbarkeit“ überhaupt - und zwar im Hinblick auf fundamentale Zeichenprozesse im Leben und konkret im Hinblick auf jetzt deutlicher werdende mediale Phänomene am Rande oder schon jenseits der buchstäblichen Zeichen. Hauptsächlich soll gezeigt werden, dass Lebenssteigerung notwendigerweise auf das Prozessieren von Zeichen, auf das Fortschreiten einer unausgesetzten Semiose angewiesen ist: Leben (Existenz, Sein, Mensch - welche Bezeichnungen man dann immer weiteren Verlauf immer auch wählen mag) kann sich nur dann steigern, wenn es immer neue Zeichen findet oder erschafft oder zumindest vorhandene Zeichen entsprechend verändern kann. Kontrovers genug geht es auch im Folgenden um eine „Lesbarkeit / Unlesbarkeit der medialen Welt“, die zum Teil geradezu in Opposition zu jener lektüre-ähnlichen Beobachtung und Erschließung von Welt erfolgt, für die Hans Blumenbergs freilich großartiges Buch „Die Lesbarkeit der Welt“ exemplarisch ist.

Gegenwärtig lassen sich in den Geisteswissenschaften zwei unterschiedliche Tendenzen beobachten: Die eine Tendenz konzentriert sich nach wie vor darauf, sogar noch die Textualität von Bildern bestimmen zu wollen; die andere hingegen besagt (mindestens gleichermaßen berechtigt), Bilder ließen sich nicht allein nur im Textparadigma erklären.


Neue Funktionen der Schrift und der Literatur

Die neuen Medien bringen viele Vorteile gerade auch für Schrift mit sich: Sie nehmen Schrift verstärkt aus ihrer eigentümlichen Zeitlosigkeit, aus der Gefahr der Erstarrung, der Aufb(ew)ahrung in Bibliotheken heraus. Schrift kann nunmehr in den medialen Beschleunigungen ihrer Arretierung, ihrem Arrest entgehen, kann in Filmen, Videos und am Computer ähnlich „lebendig“ performiert werden wie die Mündlichkeit oder wie die Bilder. Mit ihrem Transfer in ein digitales Medium erzielt Schrift bemerkenswerte und (wenn man so will) auch erfreuliche neue Eigenschaften. Wir sehen also anders als viele Beobachter (vgl. die Hinweise bei Schmitz-Emanz 1991, 8 ff.) wenig Gründe, die Geschichte der Schrift, geschweige denn die Zukunfts-Geschichte der Schrift mit Versteinerung, Agonie oder Tod zu assoziieren. Schrift kann mehr als nur Sprache darbieten. Denn gerade mit der Darbietung von Sprache vermittelt Schrift immer auch mehr als nur Sprache: innere Bilder, Vorstellungen.

Man kann vorläufig festhalten: Kulturkonservative Befürchtungen vor einem Untergang der „guten“ Schrift und einer Epidemie der „schlimmen“ Bilder sind genauso unberechtigt wie andererseits die eilfertigen Jubelrufe, die alles feiern, nur weil es möglicherweise neu ist. Lautstarke Warner und lautstarke Entwarner sind einander ähnlich in ihren allzu einfachen Schlussfolgerungen; die besseren Plätze finden sich zwischen solchen Positionen. Wir beobachten weder „kulturkonservativ“ eine „Bilder(sint)flut“, weder beklagen wir, geschweige denn feiern wir ein „Ende der Gutenberg Galaxis“. Wenn es auf Genauigkeit und Differenzierung ankommt, dann knicken viele steile, populäre Thesen ein und reduzieren sich auf das, was alle immer schon gewusst haben - etwa, dass Druckmedien keine Alleinherrschaft mehr haben.


Prognostische Situation

Wer gegenwärtige und zukünftige Entwicklungen zu beobachten versucht, wer nicht nur analysieren will, was einmal war und was immer noch nachwirkt, wer nicht nur das festhalten will, was gegenwärtig als gesichert gelten kann, wer „gewissen prognostischen Anforderungen“ (Walter Benjamin) genügen will, gerät in eine, nicht nur epistemologisch offene Situation. Es wäre mindestens leichtgläubig, voraussetzen zu wollen, alle nur erdenklichen Zukunftssituationen seien historisch schon vorformuliert, die jetzigen Kultur- und Medien-Veränderungen seien in jedem Aspekt historisch analogisierbar. Die kulturellen und medialen Veränderungen sind jedenfalls so grundlegend, dass sich vor allem eine Zielorientierung, die im Zuge der Beobachtung gleichsam nur immer wieder die vertrauten Linien des eigenen historischen Bewusstseins nach vorne verlängert, dann genau als die Perspektive erweisen könnte, die diesen Wandel am allerwenigsten in den Blick bekommt. Die alten Informations-, Kommunikations- und Medienmodelle der Wissenschaft sind jedenfalls in der Krise; die meisten der dort verfügbaren Modelle sind alles andere als tauglich, um Medienentwicklungen und kulturelle Veränderungen zu erfassen. Als Selbstläufer haben die Medien nicht nur die Politik abgehängt, sondern auch jede weitere herkömmliche Hoffnung auf Steuerung, Kontrolle oder Aufklärung durch wissenschaftliche Beobachtung.

Es fehlt gewiss nicht an prognostischen, „halluzinatorischen“ Schriften (auch sie sind zahllos), die Interessantes und Weitreichendes über Medien und insbesondere über neue Medien voraussagen (etwa von J. Baudrillard, V. Flusser, P. Virilio bis hin zu N. Bolz und N. Postman). Solche Vorschläge und Prognosen sind allemal anregend, aber nicht selten reduziert sich der Nutzen dieser vorausblickenden Arbeiten auf die pure Anregung, es dann doch anders machen zu müssen. Sehr selten scheinen die heiklen Voraussetzungen der steilen (und der oft eben auch deshalb „prominent“ gewordenen) Thesen überhaupt noch durch, geschweige denn werden die Grundannahmen explizit gemacht. Demgegenüber sollen im vorliegenden Buch zu Anfang die grundlegenden, auf einander aufbauenden Schritte ausführlich dargestellt werden, in deren Folge sich die Hauptthese „Medien dienen der Lebenssteigerung“ erst bewähren kann.


Zwei Wege

Es gibt eigentlich nur zwei brauchbare Wege, auf die übrige Medienwelt, auf die nicht-buchstäblich zu lesende Zeichenwelt zu reagieren: Im ersten Fall bedient man sich verfeinerter Instrumente aus Theorie und Praxis der Kultur- und Literaturwissenschaft, akzeptiert beispielsweise noch verstärkt die fundamentale, provokante Zeichenskepsis etwa der sog. Dekonstruktion (etwa eines Derrida, eines Roland Barthes, eines Jacques Lacan oder Gilles Deleuze u.v.a.m.). Allerdings geht dieser erste Weg, verfeinert bis zur Grenzüberschreitung, eigentlich immer noch von Sprache, Schrift und Literatur aus und versucht, zwar nicht erfolglos, aber allemal paradox, jene Spuren zu streifen, die auf diesem Weg nur schwerlich in den Blick kommen können. Wenn reibungslose, gängige Lesbarkeit nur noch sehr eingeschränkt ein Kennzeichen der modernen und postmodernen Literatur ist und zudem die neuen, die anderen Schrift-Bild-Zeichen der elektronischen Medien kaum mehr trifft, dann verstärken sich erneut auch wieder die Zweifel an einer hermeneutischen, literaturkritischen und literaturwissenschaftlichen Ausdehnung der gängigen Lesbarkeits-Konzepte auf diese anderen und neuen Zeichen.

Der zweite Weg scheint mir der interessantere, obwohl er fast ein Ding der Unmöglichkeit darstellt: Anders und umgekehrt als beim ersten käme man hier gerade nicht, wie immer verfeinert und grenzüberschreitend, von der literarischen Zeichenwelt her, sondern würde gewissermaßen von den anderen und neuen Zeichen dann auch auf die Literatur zurückblicken. Was Literatur ist und sein wird, lehrte jetzt der ergänzende Blick von außen. Erst die neuen Medien lehrten die Eigenschaften der alten, die bislang nicht oder kaum zum Vorschein kommen konnten.

Während zumeist von den Unterschieden der einzelnen Zeichensysteme, von den Unterschieden der einzelnen Medien ausgegangen wird und dann erst später (wenn überhaupt) Ähnlichkeiten in den Blick genommen werden, scheint inzwischen eigentlich nur noch der umgekehrte Weg aussichtsreich, nämlich zunächst auszugehen von den Gemeinsamkeiten jeglichen Zeichenhandelns, von den Gemeinsamkeiten des Medialen. Wer mit Unterschieden zwischen einzelnen Zeichensystemen oder einzelnen technischen Medien startet, mit unterschiedlicher Sinnproduktion und differenten Bedeutungsarten, bekommt bei grundsätzlichen, bei theoretischen Überlegungen dann das große Problem, gewollt oder ungewollt, dass sich diese Unterschiede im Vorlauf der Konzeptualisierung schon so verstärkt haben, dass dann kaum noch grundlegende Gemeinsamkeiten aller Zeichenprozesse erklärt werden können. Hierin liegt einer der Gründe, warum wir bis heute keine allgemeine Medientheorie, jedenfalls keine elaborierte und akzeptierte, haben.


Erfindung von Beobachtungen

Die neuen Medien-Entwicklungen werden sich nur verstehen lassen, wenn wir dabei wenigstens teilweise versuchen, uns immer auch das vorerst „Unvorstellbare“ zu erarbeiten. Nicht allein ein historischer, sondern eher essayistischer, ein halluzinatorischer Blick, der die Gegenwart und die Zukunft, aber gerade auch die Vergangenheit der Medien „erfindet“, scheint dafür geeignet. Dieser Blick könnte zeigen, dass erst die neuen Medien eine bessere, um nicht zu sagen: gerechtere Einschätzung auch der älteren Medien erlauben. So verdeutlichen jetzt die elektronischen Medien die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen der Druckerzeugnisse. Wer glaubt noch daran, dass es ein, von unserem Zutun unabhängig vorhandenes „Buch der Welt“ gibt, das wir nur aufschlagen müssten und das wir richtig entziffern könnten, wenn wir bewährte, „gegenstands-adäquate“ Techniken der Lesbarkeit nur ausreichend verfeinerten. Wenn wir indessen akzeptieren, dass Bewusstsein seine „Gegenstände“ erst formiert, dass das Bewusstsein gleichsam zwischen Hervorbringung und Entzifferung oszilliert, dann ergibt sich keineswegs nur eine Verlust-Rechnung; es lassen sich auch Gewinne verzeichnen: Wir werden nicht aufhören mit der paradoxen Tätigkeit, eine unentzifferbare Welt entziffern zu wollen. Erweitertes Spielmaterial hätten wir: die neuen Medien, dort wo sie wirklich intelligent und kreativ sind. Das ist oft genug der Fall.

Zahlreiche Diskussion um das tatsächlich oder vermeintlich Neue an den neuen Medien haben immer wieder gezeigt, dass vor allem jene verbreitete Haltung, die restlos immer alles schon in der Antike oder spätestens „um 1800“ vorfindet, nur bedingt hilfreich ist. Nehmen wir eine Frisbee-Scheibe: Dabei können dann die historiographisch verfahrenden Kolleginnen und Kollegen gerne und zurecht auf die großen Ähnlichkeiten mit der griechischen Wurfscheibe, dem Diskus, verweisen. Wenn die Beobachter es allerdings dabei bewenden lassen (und das geschieht zumeist), ignorieren sie auch jene Eigenschaften der Frisbee-Scheibe, die Frisbee vom Diskus unterscheidet: die Leichtigkeit, die Flüchtigkeit, die Massenproduktion, die durchaus andere, „coole“ Verwendungssituation. Wie auch immer: wir wollen jedenfalls die Möglichkeit vorsehen, gewisse neue Aspekte einer Wurfscheibe zu beobachten oder zu behaupten.

Zwar mag man gerade im Hinblick auf die allgemeine Mediennutzung mit Zustimmung überschwänglich sagen: „Was der Mensch sich wünscht, das hat er nicht (ewige Jugend, Glück, Liebe). Daher sind die Wünsche und das Begehren stets dem Imaginären verschwistert. Andererseits gilt, daß für uns nichts als das Imaginäre wirklich bedeutsam ist.“ (H. G. Pott 1990, 104) Uns geht es jedoch um allgemeine, ganz alltägliche Lebenssteigerungen und dabei fühlen wir uns eigentlich nur von Albert Ehrenstein bestens verstanden: „Das Leben! Was für ein großes Wort. Ich stelle mir das Leben als eine Kellnerin vor, die mich fragt, was ich zu den Würsteln dazu wolle, Senf, Krenn oder Gurken.“ Und wir wollen zeigen, dass es eher keinen Unterschied macht, ob diese Kellnerin nun medial vermittelt oder scheinbar unvermittelt bei uns ankommt.

Die eigene unbescheidene Einmischung in allgemein bewegende Dinge, zudem in weitgehend ungeklärter Theorielage, hat Ihren Grund wohl nicht zuletzt in einer Art von Selbsttäuschung des Verfassers, nämlich trotz aller medialen Neuerungen immer noch zu glauben, er steigere Leben gerade auch dann, wenn er liest und schreibt, wenn er also einigermaßen fern vom MedienLeben ausgerechnet Aufsätze und Bücher rezipiert oder gar selbst zu schreiben versucht.

Im vorliegenden Buch greife ich zurück auf einzelne Formulierungen und - in selteneren Fällen - auch auf einige Abschnitte bereits publizierter Arbeiten (etwa in Ausstellungskatalogen). Weil es schon damals nicht darum ging, das letzte Wort zu haben, konnte auch jetzt kaum etwas tatsächlich unverändert von dort übernommen werden


Kontakt: redaktion@medienobservationen.de Veröffentlicht am 08.01.2004

   
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